Aus dem Staub

Wenn es um Effizienz geht, um Konzentration auf das Wesentliche, dann ist das Markusevangelium beispiellos: Es hält sich nicht lange auf mit Vorgeschichten. Wir lesen darin nichts von der Geburt Jesu oder seiner Kindheit, erfahren nichts von seiner persönlichen Entwicklung oder dem familiären Umfeld. In wenigen Sätzen wird auf die Verheißung bei Jesaja verwiesen, geradezu stichwortartig berichtet von Johannes dem Täufer, der Taufe Jesu, seiner Zeit in der Wüste und der Berufung der ersten Jünger.

Das Markusevangelium kommt stattdessen gleich zur Sache und beschreibt Jesu Wirken als eine dichte Abfolge aus Verkündigung und Wunderheilungen. Jesus ist gefragt, ist gefordert: Tagsüber lehrt er in der Synagoge, und abends stehen die Menschen schon vor dem Haus Schlange, damit er Kranke und Besessene heilt. Jesus ist von Anfang an ein gefragter Mann.

Am nächsten Morgen, noch vor Sonnenaufgang, geht er unbemerkt aus dem Haus. Er sucht die Einsamkeit. Er wählt für sein Gebet einen Ort der Stille. Nach langen Stunden inmitten vieler Menschen, lärmenden Andrangs und Auseinandersetzung mit vielfältigsten Anliegen war das wohl nötig: Mal für sich zu sein, zur Besinnung zu kommen, neue Kraft zu schöpfen.

Einmal tief Luft holen, bevor es im nächsten Augenblick weiter geht: Die Jünger haben ihn entdeckt. Er soll zurückkommen: Da sind noch mehr Kranke, noch weitere Besessene, die auf ihn warten und seine Hilfe brauchen. Wie vielen Menschen geht es heute im Grunde ähnlich!

Fragen Sie mal Krankenschwestern, Ärzte, Pflegekräfte: Viele von ihnen haben diesen Beruf gewählt, um Menschen zu helfen – doch im Getriebe immer enger getakteter Abläufe sind sie gezwungen zu unbarmherziger Routine, die wenig Freiheiten erlaubt und nur wenig Raum gibt für menschliche Begegnung.

Und so wie ihnen geht es in vielen Berufen: Voller Einsatz ist gefordert, und oft mehr als das. Die Arbeit wird nicht weniger, muss aber von immer weniger Menschen immer schneller bewältigt werden. Und daneben sind andere, die zwar gerne arbeiten würden, aber keine Stelle finden und auch darüber schier verzweifeln. „Moderne Zeiten“ – für welchen Preis?

Jesus ist aber nicht nur ein gefragter Mann, an den viele Erwartungen geknüpft sind. Er hat auch einen Auftrag, ein Ziel, das „große Ganze“, dass er bei aller Anforderung der Einzelnen nicht aus dem Blick verliert. Und darum kehrt er auch nicht zurück in das Haus des Simon, wo sich wieder eine große Menge versammelt hat. Nein: Er zieht lieber weiter, an andere Orte, zu anderen Menschen, zu anderen Aufgaben, die auf ihn warten.

Muss er seine Zeit und Kräfte einteilen, muss er wie so viele andere ökonomischen Prinzipien folgen? Wir haben ja auch heute wieder die Diskussion nicht nur in der Kirche, sondern fast überall, wie mit begrenzten Mitteln angemessen umzugehen ist. Strukturen erweitern, Leistungen kürzen und sich auf das Wesentliche konzentrieren: Ja, wenn das so einfach wäre! Wenn das ohne Schmerzen und Verluste ginge!

Ich kann mir die Szene vor dem Haus des Simon gut vorstellen: Da stehen die Menschen – voller Hoffnung, dass auch sie endlich von Krankheiten und Schmerz geheilt werden, genauso wie die Menschen am Tag zuvor. Doch es passiert nichts. Nicht in der ersten Stunde, nicht in der zweiten, nicht in der dritten. Jesus ist weitergezogen, sie gehen offenbar leer aus.

Fassungslosigkeit, Verzweiflung, Ärger und Wut – es war wohl von allem etwas dabei, als die Menge sich dann wieder auflöste. Enttäuschte Hoffnung macht den Schmerz noch größer, Resignation wächst, und die Frage „warum ich“ bleibt ohne befriedigende Antwort. Solche Reaktionen sind nur allzu menschlich-verständlich, und sie sind angesichts dieser bitteren Erfahrung auch nicht als „falsch“ zu kritisieren: Das wäre Wohlstandsdenken ohne Mitgefühl.

Dennoch muss darüber nachgedacht werden, „was wäre wenn“: Wenn Jesus im Haus des Simon geblieben wäre, für Tage, Wochen und Monate. Der Bedarf war zweifellos da, es gab genug Menschen, die seine Hilfe, die Heilung von unterschiedlichsten Gebrechen brauchten. Doch geht es Jesus einzig und vor allem um die Heilung von Krankheiten?

Ich bin gekommen, auch dort, in den anderen Orten zu predigen – und er predigte in ihren Synagogen in ganz Galiläa und trieb Dämonen aus“, so lesen wir bei Markus. Als eine Art Landarzt im Haus des Simon hätte er ein sicheres Leben gehabt, aber was wäre dann geworden?

Heilsegoismus beschreibt als theologischer Begriff eine Art frommes „St. Florians-Prinzip“; frei nach dem Motto „schon unser Haus, zünd andere an“. Unsere westliche Zivilisation hat sich längst daran gewöhnt, auf Kosten anderer, ärmerer Länder zu leben – das Unbehagen reicht gerade für ein paar karitative Projekte, für Almosen. An echter Solidarität fehlt es uns.

Heilsegoismus hat sich in unsere Gesellschaft und zum Teil auch in die Kirchgemeinden eingeschlichen: In unserem gesicherten Wohlstand fällt es naturgemäß schwer, Neues zu wagen, Veränderungen zuzulassen und dabei vielleicht auf Vertrautes und Liebgewonnenes zu verzichten. Wie die Jünger zu Jesus rufen auch wir voll Erwartung „jedermann sucht dich!“

Wir rufen es anklagend zu den Politikern, damit sie gerechte, für uns bequeme Regelungen finden, wir rufen es in Richtung der Kirchenleitung, damit die Kirche in unserem Dorf bleibt, wir rufen es zu den Ärzten, Juristen, Polizisten, Handwerkern, Kellnern, zu allen bis hin zur Kassiererin an der Kasse, damit vor allem unsere Anliegen schnell umgesetzt werden und wir eben nicht warten müssen oder gar leer ausgehen. Haben Sie auch schonmal so ein Schild gesehen mit dem Spruch „Kleinere Dinge erledigen wir sofort, Wunder dauern etwas länger“?

„Das Wunder ist des Glaubens liebstes Kind“, schrieb Goethe mit spöttischem Unterton. Seinen Spott teile ich nicht, denn wir brauchen Wunder, auch heute in unserer Welt, und Gott sei Dank dürfen wir auch hier und da immer wieder Zeuge von großen und kleinen Wundern werden. Mein christlicher Glaube hält mir dieses Fenster der Hoffnung offen, er lässt mich nicht an den Grenzen meiner Möglichkeiten, an dem Leid und der Ungerechtigkeit verzweifeln. Aber eben dieser Glaube zwingt mich auch heraus aus träger Bequemlichkeit:

Er fordert mich auf, meine bescheidenen Möglichkeiten einzusetzen und mitzubauen an einer Kirche, die Wertvolles bewahrt wie auch Neues eröffnet, die Heimat bietet wie auch das Verlorene sucht. Der Ruf zur Nachfolge schließt beides ein, den Dienst nach innen wie nach außen: Es reicht nicht, wenn die Kirche, die Gemeinde nur ihren eigenen Acker bestellt.

Eben darum kennt sie neben den Räumen der Besinnung und Einkehr auch die alte Tradition des Pilgerns: Christlicher Glaube reift, wo christliche Botschaft gefragt ist – also auch dort, wo ihre Verkündigung, ihr Bekenntnis schwer fällt und Mühe macht. Wo sie keine Wertschätzung erfährt, wo es an Liebe mangelt, wo es an mancherlei krankt. Der Begriff der Diakonie drückt dies aus: „Durch den Staub“. Vor allem dort ist man den Menschen nahe.

Das Markusevangelium beschreibt Jesu Wirken als eine dichte Abfolge aus Verkündigung und Wunderheilungen. Jesus ist gefragt, ist gefordert, und in seiner Nachfolge sind auch wir gefragt und gefordert. Sicher, viele Menschen in unserem heutigen Umfeld mag es nicht interessieren, was wir glauben und bekennen. Doch können wir das so genau wissen? Ich mache in meinem beruflichen Alltag durchaus immer wieder die Erfahrung, dass es bei gar nicht so wenigen durchaus eine verhaltene Neugier gibt, eine noch unhörbar leise Hoffnung.

Man muss da kein Wunderheiler oder studierter Theologe sein: Respekt bezeugen vor Lebenserfahrungen anderer, demütig und glaubwürdig sein im eigenen Reden und Handeln – das ist schon viel, und alles Weitere steht bei Gott. Der Glaube an Gott ruft zur Tat, gerade da, wo andere resigniert aufgeben, er ruft zur Gemeinschaft gerade da, wo andere sich zurückziehen: In der großen Politik wie auch im alltäglichen Miteinander.

So wie Gott uns nicht aus den Augen verliert, führt unser Glaube zum Dienst am Nächsten. Es ist nicht selten ein ermüdender, manchmal auch vergeblich scheinender Liebesdienst, zu dem wir da berufen sind.

Umso wichtiger, dass wir ihn nicht alleine tun. Dass wir eine Gemeinschaft vieler sind, die sich auf den Weg begeben, und dass auch wir Orte der Stille und Raum für Gebete haben. Mal für sich zu sein, zur Besinnung zu kommen, neue Kraft zu schöpfen – das ist notwendig und tut gut.

Und es kann sogar Wunder wirken, wenn wir dabei nicht in dumpfer Grübelei versinken, sondern uns als Kinder Gottes begreifen, in stummer, dankbarer Demut unter dem Kreuz, mit Liedern der Hoffnung auf den Lippen und mit einer frohen Botschaft auf dem Weg.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft
bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.