Billig & heilsam

„Gesundheit“ – das wünscht man einander bei vielen Gelegenheiten, „Glück und Gesundheit“, und langes Leben natürlich. Gesundheit, das ist zumindest heute eine ganz selbstverständliche Erwartung, heute, wo die moderne Medizin so viel vermag.

Gesundheit gehört beinahe schon zum „guten Ton“: Zumindest bei jüngeren Menschen wird vorausgesetzt, dass sie stets frisch und fröhlich ihr Tagwerk verrichten. Bei Krankmeldungen lautet daher auch immer die erste Frage: Für wie lange denn? Kann doch nicht so schlimm sein!

Krankheiten gelten heutzutage zumeist als ärgerlicher Ausnahmezustand, oder als zunehmend lästige, aber immer noch beherrschbare Erscheinung im Alter. Sie rühren nicht gleich an unser Selbstverständnis, sie stellen nicht gleich das Leben grundsätzlich in Frage. Wir sind es gewohnt, kleine und größere gesundheitliche Beschwerden vor allem nüchtern durch die Brille des Arztes zu betrachten. Und das ist auch völlig berechtigt – wir haben all die medizinischen Möglichkeiten, und die sind weiß Gott ein Segen für die Menschheit. Ohne sie würde ich heute nicht hier vor Ihnen stehen.

Fraglos gibt es da auch heikle Grenzfälle: Lebenserhaltende Maßnahmen mit einer unmenschlich wirkenden Apparatemedizin, Überlebenskämpfe von wenigen Monate alten Frühchen oder auch schwere Chemotherapien, bei denen man sich manchmal fragt, ob hier nicht sprichwörtlich „der Teufel mit dem Beelzebub ausgetrieben“ wird. Das alles sind schwere (und schon gar nicht von Außenstehenden zu entscheidende) Grenzfälle, über die wir aber nicht die vielen guten Aussichten auf Heilung oder zumindest Beschwerdefreiheit vergessen dürfen:

Auf mein Gottvertrauen anstelle von ergänzendem medizinischen Rat zu setzen, das wäre nicht christlich, sondern schlicht töricht und eine Verachtung von Gottes guter Schöpfung. Und umgekehrt ist man gut beraten, auch nicht alles der ärztlichen Kunst zu überlassen, nicht alles, was uns beschwert und belastet einfach nur wie ein kaputtes Auto dem Mechaniker in der Werkstatt zu übergeben. Gesundheit, leibliches wie seelisches Heil geht weit darüber hinaus: Im Brief des Jakobus steht die Empfehlung, zu beten, seine Sünden zu bekennen und sich salben zu lassen.

Die Krankensalbung ist ein sehr alter Brauch: Zu Zeiten, da die Medizin noch in den Kinderschuhen steckte, war sie oft das einzige, was man tun konnte. Dieser Akt der Zuwendung war für die Kranken oft tröstlich und wurde so zum Teil ihres Heilungsprozesses. Häufig war es aber auch ein letzter Dienst an einem Kranken vor dessen Tod, und so ist die auch in der evangelischen Kirche mögliche Krankensalbung vielen nur noch bekannt in Form der „letzten Ölung“, wie sie die katholische Kirche praktiziert.

Wie ist das heute? Kann eine Salbung, kann ein Sündenbekenntnis und ein Gebet uns wieder gesund, wieder „heil“ werden lassen? Will uns das der Predigttext sagen? Lassen Sie uns doch einmal überlegen, welche Formen der Heilung es gibt: Bei einer Krankheit soll man sich vor allen Dingen schonen und zur Ruhe kommen. Man soll dem Körper geben, was ihm fehlt. Störende Einflüsse zurückdrängen, notfalls auch mit der „chemischen Keule“ oder dem Skalpell. Man soll nicht aufgeben, sondern immer nur positiv denken.

Sie merken schon: Da schleicht sich ein ungutes Gefühl mit hinein; es ist gar nicht so leicht zu sagen, was uns „heil“ werden lässt. Wenn der Kampf um die Gesundheit alles andere Lebenswichtige in den Schatten stellt, wenn dieses „Wiederherstellenwollen“ am Ende mehr verlangt als es verspricht. Ja: Gesundheit ist nicht alles – manchmal vergisst man diese schlichte Weisheit über allen medizinischen Bemühungen. Wir müssen uns also fragen: Wie ist das mit dem „Heil“, von dem die Bibel spricht, das wir in Kirchenliedern besingen und worum wir im Gebet bitten?

Ist es vielleicht mehr das Seelenheil, von dem hier die Rede ist? Auch da gäbe es reichlich Bedarf, denkt man an die vielen gestörten Beziehungen, an zahllose zwischenmenschliche Spannungen. Oder denken wir an krankmachenden Leistungsdruck in Beruf und Familie, an die vielen Abhängigkeiten von Geld und Gut, an das Streben nach Sicherheit und an die Angst vor dem Ende: Ungestillte Sehnsüchte, tiefsitzende, schmerzhafte Verletzungen. Flucht und Angriff überall, Lebensgier und drohende Leere. Was ist da an unseren Seelen nicht alles zu kitten und zu heilen!

Leidet jemand unter euch, der bete; ist jemand guten Mutes, der singe Psalmen.
Ist jemand unter euch krank, der rufe zu sich die Ältesten der Gemeinde,
dass sie über ihm beten und ihn salben mit Öl in dem Namen des Herrn.
Und das Gebet des Glaubens wird dem Kranken helfen, und der Herr wird
ihn aufrichten; und wenn er Sünden getan hat, wird ihm vergeben werden.
Bekennt also einander eure Sünden und betet füreinander, dass ihr gesund werdet.
Des Gerechten Gebet vermag viel, wenn es ernstlich ist.


Ich lese daraus einige in der Tat gute Rezepte, wie Heilung, wie Gesundung geschehen kann: Wer leidet, der soll seine Stimme erheben, der soll Hilfe suchen und sich helfen lassen. Der soll sich seiner Umwelt nicht entziehen, sondern der Fürsorge anderer vertrauen. Wer leidet, der soll sich nicht plagen mit der Frage nach Schuld und Ursache, sondern soll sich öffnen für die Liebe. Es liegt vieles auch an uns, unserer Haltung und an dem, was wir Gott und unserem Nächsten zutrauen und zubilligen.

Ein gebrochenes Bein oder ein gebrochenes Herz wird dadurch nicht kaum schneller heilen. Aber an dem damit verbundenen Glauben entscheidet sich zu einem guten Teil, wie wir unser Kranksein erleben, wie wir uns darüber definieren – und wie unsere Erwartung von Heilung aussieht. Ich bin Menschen begegnet, denen ein Schnupfen mehr zusetzt als Menschen, die an einer chronischen, unheilbaren Krankheit leiden – und trotzdem „des Lebens Fülle“ mehr auskosten und genießen.

Manche schöpfen aus einer Krankheit innere Kraft, die sie vorher bei bester Gesundheit nicht besaßen. Doch wir wollen nichts beschönigen: Für manche, nein für viele wird Krankheit auch zu einer schweren Last, zu einem Abschied auf Raten von Gewohntem, von Lebenszielen, Lebensqualität, von lieben Menschen. Des Gerechten Gebet vermag viel – aber Wunder wirkt Gott allein, und das auf eine Weise, die sich uns nicht immer erschließt.

Wann fühlen wir uns krank? Wann betrachten wir uns als geheilt? Beides hat ganz klar eine objektive Seite, die des ernstzunehmenden medizinischen Befundes, aus dem sich vieles ergibt. Beides hat aber auch eine subjektive Seite, die der Selbstachtung, der Lebensgestaltung trotz oder gerade wegen der Einschränkungen. Beides hat zu tun mit der „lebendigen Hoffnung“, die bezogen auf Gott weit mehr ist als nur ein frommes Wort.

Aussicht auf Heilung – wie immer diese aussehen, sich gestalten mag – sie hat im christlichen Glauben eine viel größere Dimension. Sie beschränkt sich keineswegs nur auf die subjektive und spirituelle Dimension, sondern sie geht vielmehr über das hinaus, was wir als objektive Lebenswirklichkeit erfassen können. Heilung, das kann ja durchaus auch bedeuten, versöhnt mit sich und mit der Familie in Frieden aus dem Leben zu scheiden. Heilung, das kann bedeuten, mit schwerer Krankheit das Leben neu zu entdecken und schät￾zen zu lernen, was früher unbeachtet blieb.

Heilung kann schließlich auch bedeuten, ganz einfach mit neuer Kraft und Zuversicht sein Leben nochmal neu anzupacken, um auf „gesunde Verhältnisse“ hinzuarbeiten, im Körperlichen wie im Seelischen. Und da wir Menschen nunmal sind, wie wir sind, kann Heilung immer auch bedeuten, Schmerz und Schrecken einer Krankheit schnell zu vergessen, sobald man wieder genesen und „alles wieder gut“ ist.

Heilung durch den Glauben, das ist etwas, das unser ganzes Wesen umfasst, und dessen wir immer wieder neu bedürfen. Immer wieder müssen wir dahin kommen, dass wir mit unseren Grenzen leben lernen, dass wir unsere Hoffnung neu buchstabieren lernen, dass wir überwinden, was uns von Gott und voneinander trennt.

„Komm, o mein Heiland, Jesu Christ“ – keine Sorge, wir stimmen jetzt keine Adventslieder an. Aber wo die Supermärkte schon seit Wochen Weihnachtsmänner verkaufen, da möchte ich sie heute schon einmal einladen, die bevorstehenden Zeit des Kirchenjahres und die dunkler werdenden Tage besonders zu betrachten:

In Hinblick auf das, was Gott uns Menschen an Heil zugedacht hat, in Hinblick auf das, was Liebe, Vergebung und Erlösung für uns bedeuten – und wie wir, unsere Gemeinschaft und unser Leben daran gesunden können.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft
bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.