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Grenzüberschreitend

„Es begab sich aber zu der Zeit“ – so hätte unser heutiger Predigttext auch beginnen können: Es ist eine kleine, wenngleich schon auch etwas längliche Weihnachtsgeschichte, die uns hier in der Epiphaniaszeit zu Ohren gebracht wird. Freilich: Ohne Maria und Joseph, ohne Hirten und Könige, ohne Zeichen am Himmel. Für ein Krippenspiel ist dieses Kapitel der Apostelgeschichte kaum geeignet, wie in unseren abgeschmückten Wohnstuben ist alles schon ein wenig reduziert.

Immerhin: Ein Engel kommt darin vor, sowie zwei fromme Männer und ein paar Statisten. Die beiden Männer leben in ganz unterschiedlichen Welten, und doch verbindet sie etwas: Beiden sind unbedingter Gehorsam und Disziplin ins Herz geschrieben – dem gesetzestreuen Juden Petrus und dem als fromm bezeichneten Hauptmann Kornelius. Beide empfangen von Gott eine Vision, einen Befehl, der sie verändern wird.

Da ist Petrus, der Fels, auf den die Kirche aufgebaut werden soll. So heroisch, wie er in vielen Kirchen dargestellt wird, begegnet er in der Bibel eher selten: Wie ein Streber in der Schule will er immer der Erste und Beste sein, scheitert aber regelmäßig am eigenen Anspruch.

Dreimal, so lesen wir, erklärt ihm die Stimme Gottes, was es mit jenem Tagtraum von den vielen verschiedenen Tieren auf sich hat: „Petrus, nenne du nicht unrein, was Gott rein gemacht hat“ – mit anderen Worten: Wenn dich die jüdischen Speisevorschriften dabei behindern, anderen Menschen zu begegnen und ihnen das Evangelium zu bringen, dann lass es gut sein. Verfolge deinen Auftrag mit Blick auf das Wesentliche, und versuche nicht schon wieder, dich zum Lehrmeister Gottes zu machen!

Uns moderne Christen mag das nicht sonderlich berühren. „Speisegebote“ kennt unser Glaube nicht, die lassen wir uns höchstens von Fitnesstrainern und Schönheitsidealen diktieren. Was rein oder unrein, vertretbar oder sträflich ist, entscheidet zumindest im Alltag jeder für sich: Die kleine Schummelei bei der Steuer, die dunkelgelbe Ampel, aber auch größere Delikte können wir gut vor uns rechtfertigen und verbitten uns dabei jedes richterliche, geschweige denn kirchliche Eingreifen.

Dreimal sprach die Stimme zu Petrus, damit er es – hoffentlich – endlich begreift. Dreimal hatte Petrus seinen Herrn verleugnet, als dieser dem Tod entgegen ging. Dreimal hat der Auferstandene ihn gefragt: Petrus, hast du mich lieb? Wir sind schnell mit Worten, aber bei den Taten hapert es oft. Dreimal – damit es eben nicht beim Hörensagen bleibt, sondern auch eindringt in die Lebenswirklichkeit.

Als militärisch geschulter Hauptmann weiß Kornelius, was eine Befehlskette ist – bei ihm geht das Ganze etwas zackiger, Befehl ist Befehl und muss nicht extra wiederholt werden! Offenbar hat er auch ein gutes Gespür für Machtverhältnisse, wenn er so konsequent handelt: Sympathien für andere Religionen waren in der römischen Armee durchaus verbreitet und akzeptiert, solange sie nicht die letztgültige Autorität von Staat und Kaiser gefährdeten. Aber Kornelius zieht die Sache durch: Er erkennt, wer da durch den Engel zu ihm spricht, und leitet auch für seine Untergebenen und seine Familie alles Erforderliche in die Wege.

Wäre es nicht besser gewesen, so einem klar entschiedenen Mann den Aufbau der Kirche anzuvertrauen? Doch Kornelius hätte nicht überzeugen können: Er war kein Jude, er war wie so viele Mitmenschen unserer Zeit ein Suchender, ein Interessierter, durchaus fromm veranlagt in seiner Haltung und Gesinnung: Aber er stand in keiner Glaubenstradition wie Petrus, an die er biblisch begründet, glaubhaft hätte anknüpfen können. Zudem gehörte er auch der römischen Besatzungsmacht an, war ein Kriegsherr und niemand, bei dem man als einfacher jüdischer Bürger mal eben zu Besuch vorbeischaut.

Petrus und Kornelius: Ihr Aufeinandertreffen ist denkwürdig. Beide brechen ein Tabu: Petrus seine im jüdischen Glauben verwurzelten Speisegebote, Kornelius den absoluten Gehorsam gegenüber seinem Dienstherrn. Beide tun das aufgrund einer Vision, beiden klingt Gottes Anrede im Ohr – und so machen sich beide auf und überschreiten Grenzen, ohne genau zu wissen, wohin sie das führt.

Als Jugendlicher im Westen groß geworden habe ich es geliebt, mit einem Europaticket der Bahn die Grenzen vieler Länder zu überschreiten: Frankreich, Italien, Spanien, Griechenland, nicht nur in die großen Metropolen, sondern auch in die touristisch wenig erschlossenen Provinzregionen. Ich sah und staunte, und auch ich wurde mehr oder minder offen beguckt und belächelt. Als dann die Mauer fiel, stand für mich fest: Da muss ich auch hin!

Meine Eltern begrüßten diesen Schritt anfangs als Pioniergeist (Thälmann-Pioniere kannten sie nicht), doch dann wuchs die Skepsis: Was will der da, bei den Ossis? Und ähnlich bei meinen Studien- und Berufskollegen, oder den Dresdner Schwiegereltern: Was macht der Wessi hier? Der will doch bestimmt bloß eine hübsche Frau aus Sachsen wegheiraten. Bis auf letztgenannten Punkt ist das alles heute kaum noch ein Thema, aber ich erinnere mich gut an jene Zeiten, damals kurz nach der Wende:

Wo man Grenzen überschreitet, ist man nicht automatisch auch willkommen. Manchmal schließen sich hinter einem die Türen, und man ist auf sich gestellt. Geduld war gefragt, Geduld meiner Ost- und Westverwandtschaft mit mir und umgekehrt. Geduld, für die die Kraft nicht immer ausreichte; die Zeit brauchte, um langsam zu reifen. Ich habe daher großen Respekt vor Grenzüberschreitungen und hüte mich, hier zu viel auf einmal zu fordern:

Die Flüchtlingsdebatte, die Frage nach Homosexuellen im kirchlichen Dienst, der Umgang mit Rechtspopulismus in den Gemeinden – drei aktuelle Beispiele, die deutlich machen, dass es bei Grenzüberschreitungen mit gutem Willen allein nicht getan ist. Nicht jede Irritation ist heilsam. Verletzungen entstehen schnell, auf beiden Seiten. Und wo Neues wachsen soll, darf der Boden nicht vergiftet sein mit unterdrückten Ängsten, ungeklärten Zweifeln und Gefühlen. Die Form entscheidet immer mit, das Klima der Begegnung sagt mehr als Worte.

Morgen, am 27. Januar jährt sich zum 75. Mal der Tag der Befreiung des KZ Auschwitz. Ein Datum, das zusammenfällt mit dem Ende der Belagerung Leningrads. Millionen Tote, hier wie dort. Unvorstellbares Grauen, unermessliches Leid: Würde man eine Schweigeminute halten für jedes Opfer des Holocaust, wäre es für 11 lange Jahre still.

Wie kann es möglich sein, dass sich Deutsche und Juden, Nachfahren der Kriegsopfer und Kriegstreiber wieder in die Augen blicken, neu ins Gespräch kommen und an einer gemeinsamen Zukunft bauen?

Petrus und Kornelius. Mir gefällt die Vorstellung, wie die beiden sich damals begegnet sind: Jeder ein bisschen befremdet, unsicher in seiner ungewohnten Rolle und Verantwortung. Sie hauen sich nicht ihre Überzeugungen um die Ohren, drohen nicht mit Strafen, plustern sich nicht auf. Sie erzählen einander einfach ihre Geschichte und zeigen sich darin als bewegte und beglückte Empfänger der Gnade Gottes. Darin liegt ihre Gemeinsamkeit.

„Fürchtet euch nicht“, möchte man ihnen zurufen, Gott findet einen Weg für euch, er kennt das Ziel. „Wir sind verlorener, als wir zugeben wollen, und tiefer erlöst, als wir zu hoffen wagen“, schrieb der Theologe Sören Kierkegaard. Ja, liebe Gemeinde, unser Glaube trägt auch immer ein Geheimnis in sich. Er erschöpft sich nicht in unseren begrenzten Wahrheiten. Wie unsere Kirche gehören auch wir uns nicht selbst: Auch wir müssen uns bisweilen rufen lassen, müssen beweglich bleiben, wenn wir Christus nachfolgen wollen.

Die Wege, die zu gehen sind, sie sind nicht immer leicht und angenehm. Wir entdecken auf ihnen vor allem unsere Armut und Gottes Reichtum – das gilt es anzunehmen und auszuhalten. Gott hält sich nur selten an die Grenzen, die wir ziehen – darin liegt Trost und Ermahnung zugleich.

Ich wünsche mir, ich wünsche uns Engel, die zu uns sprechen wie zum Hauptmann Kornelius und die uns begleiten auf den vor uns liegenden Wegen und Aufgaben: Ob in der Gemeinde, in der Gesellschaft oder im Familienkreis. Nichts muss so bleiben, wie es ist. Alles ist möglich, alles kann gut und heil und größer werden, wo wir mit Zuversicht Gottes Wort nachgehen und in seinem Geist zusammenfinden.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft
bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.