Boden bereiten

Ein langanhaltender Familienkonflikt mit tiefen Wurzeln in der Vergangenheit findet hier sein glückliches Ende. Alle atmen auf: Ob mit der erfahrenen Vergebung auch alles vergessen ist, wie das Sprichwort sagt? „Fürchtet Euch nicht“: Das nimmt immerhin schon mal etwas vom inneren Druck, da muss nicht mehr das Schlimmste befürchtet werden. Eine Tür geht auf – für eine neue Zeit mit neuen Möglichkeiten.

Für Joseph war so eine Zeit längst angebrochen: Ganz überrascht ist er darum von der Sorge seiner Brüder, er könne nun nach dem Tod ihres Vaters nochmal alte Rechnungen aufmachen. Für Joseph sind alle Schulden längst bezahlt – zwar nicht direkt von seinen Brüdern, doch für ihn, in seiner Lebensbilanz ist offenbar kein Posten offengeblieben: Dank guter Wendungen, trotz aller Katastrophen.

Denn ja, es gab viele dunkle Stunden in Josephs Leben – auch wenn man es ihm nicht mehr ansieht: Er hatte den Neid bitter geschmeckt, als seine Brüder ihn in die Sklaverei verkauften und für tot erklärten. Er hatte massives Unrecht erfahren, als die Frau seines ägyptischen Dienstherrn ihn verleumdete und wegsperren ließ. Unsicherheit begleitete ihn, wann immer sein Leben neue, lebensentscheidende Wendungen erfuhr.

„Wann werde ich dahin kommen, dass ich Gottes Angesicht schaue? Warum hast du mich vergessen? Warum muss ich so traurig gehen?“ Was unser Wochenpsalm mit diesen Worten ausdrückt, das dürfte auch Joseph nicht fremd gewesen sein:

Die Seele schreit um Hilfe, dürstet nach Rettung. Der Rückblick auf alte, bessere Zeiten ist von Tränen getrübt. Erlittene Schmach, die unbeantwortete Frage nach dem Warum, die krankmachende Unruhe und endloses Warten voller Ungewissheit: Das kann Menschen über alle Maßen belasten, ja regelrecht kaputt machen.

Die Hoffnung von Hungernden – sie ist ganz anders als die von vertrauter, ruhiger Zuversicht getragene Hoffnung! Die Hoffnung von Hungernden, sie klingt nicht schön, sie hat einen verstörenden, beängstigenden Unterton: Es fällt schwer, sie lange auszuhalten, wenn man nicht selbst von Not betroffen ist. Solch schmerzerfüllte Hoffnung lässt uns schnell wegschauen, sie offenbart schließlich auch das Unverdiente und Zerbrechliche unseres eigenen Glücks.

Josephs Brüder trauten dem Frieden nicht: Auch sie hatten dunkle Stunden erlebt, nicht zuletzt in ihrer Jugend, als ihnen statt Josephs Großmut regelmäßig sein schwer erträglicher Hochmut zu schaffen machte. Er sonnte sich in seiner gehobenen Stellung – genau wie jetzt wieder! Sie hingegen mussten schwer schuften in der heißen Sonne, sie mussten mit zusammengebissenen Zähnen immer neue Demütigungen erdulden.

Das konnte auf Dauer nicht gut gehen, und auch jetzt, viele Jahre später, unter völlig anderen Umständen, scheint diese alte Spannung wieder deutlich: Joseph sitzt am längeren Hebel. Er mag zwar den Brüdern verziehen haben, aber – ist es nicht immer noch jener Joseph, der sie so oft gekränkt hat? Ist er nicht immer noch „ganz der Alte“, dessen unmögliches Verhalten damals überhaupt erst die ganzen Probleme verursacht hat?

Wie so oft lehrt uns das Alte Testament hier viel über das menschliche Miteinander, über die Schwierigkeiten eines Neubeginns. Die Josephsgeschichte beschreibt uns die manchmal verschlungenen Pfade und auch die Stolperfallen, wo das Neue Testament auf das Ziel, auf die Erfüllung hinweist:

„Vergeltet niemandem Böses mit Bösem“ (Röm 12,17), „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist“ (Lk 6,36), so haben wir es heute in den Lesungen gehört, und „Einer trage des anderen Last“ (Gal 6,2) ist uns als Spruch für die neue Woche gegeben.

Auch dies Worte, die eine Tür aufgehen lassen – für eine neue Zeit mit neuen Möglichkeiten. Aber durch diese Tür hindurchzugehen, das kommt dem berühmten „Sprung über den eigenen Schatten“ gleich. Zudem wird es nicht leichter, wenn wir Menschen und leider gerade auch wir Christen uns diese Worte so eifrig um die Ohren hauen. Hochmut statt Großmut begegnen uns auch da und stoßen sauer auf:

Wann komme ich überhaupt mal in die Situation, Vergeltung zu üben nach erlittenem Unrecht? Der alte Vater hat es leicht, barmherzig zu sein – er steht nicht wie ich knietief in den Kämpfen des Alltags und muss zusehen, wie er zurechtkommt. Und die Lasten des anderen – also bitte, ich habe selber genug Probleme zu schultern, die andern dürfen sich ruhig auch mal anstrengen!

Natürlich könnte man nun den Druck noch erhöhen, noch besser zu sein, noch mehr zu tun – aber Joseph, der selber leidgeprüfte, oft genug verzweifelte Joseph, er spielt hier nicht den strengen Lehrer. Er tröstet seine verunsicherten Brüder und redet freundlich zu ihnen.

Schließlich kann er sie sehr gut verstehen. Und obwohl es ihm jetzt gut geht – Gefühle überwältigen auch ihn, wie schon beim ersten Wiedersehen mit seiner Familie nach langer Zeit: Da fließen Tränen, da geht ihm das Herz über. Da ist er mal nicht der Begünstigte, Überlegene, auch nicht der Verachtete und Verstoßene: Da ist er wie alle um ihn herum Teil von etwas Größerem, das in diesem Moment viel wichtiger ist.

Ich erinnere mich selber an so einige familiären Spannungen. Ich musste leider erleben, dass Versöhnung nicht immer gelingt, Misstrauen nicht immer zu entkräften ist, die neue gewonnene Grundlage des Miteinanders nicht wirklich belastbar ist und darum auch nicht zuverlässig trägt.

Manches verliert mit der Zeit an Schärfe, v.a. wenn die sog. „Altersmilde“ einsetzt. Manches scheint wieder harmonisch, um dann nach Jahren mit umso größerer Heftigkeit erneut aufzubrechen. Und ob „gnädiges Vergessen“ wirklich hilfreich ist, das wage ich zu bezweifeln: Nicht ohne Grund legen wir bei Beerdigungen auch all das in Gottes Hand „was unvollendet geblieben“ ist – bei dem Verstorbenen wie bei den Hinterbliebenen.

Vergebung denkt in einer anderen Dimension, sie umfasst weit mehr als eine reine Aufarbeitung. Sie markiert den Schritt durch jene Tür, hin zur Barmherzigkeit, die nicht zurückschaut, aber sehr wohl weiß um das Elend der Welt.

Wundern wir uns nicht, wenn es womöglich ein einsamer Schritt ist: Denn wie Josephs Brüder dachten, damals, davon ist uns nichts überliefert. Ob sie es annehmen konnten, ob auch sie diesen großen Schritt mitgehen konnten?

Sie, die Brüder, taten immerhin etwas sehr Kluges: Sie verloren sich nicht in endlosen Entschuldigungen und Rechtfertigungen, sie erhoben keine Vorwürfe „weil ja Josef schließlich auch“ usw. Sie erinnerten stattdessen an die große Liebe des Vaters zu Joseph: Sie war und ist noch immer die große Klammer, die sie verbindet – selbst oder gerade jetzt in der gemeinsamen Trauer. Die Erinnerung an diese väterliche Liebe: Sie leugnet und löst nicht alle alten Spannungen, wie sollte sie auch. Der Splitter in Deinem Auge, der Balken in meinem Auge – ihn zu erkennen, gar zu entfernen, das braucht weit mehr: Eine vertrauensvolle Atmosphäre z.B., und eine sehr ruhige Hand!

Joseph war sich der Liebe seines Vaters zu sich und zu seinen Brüdern bewusst, er musste gar nicht erst erinnert werden. Und Joseph tat darum, was ihm in diesem Bewusstsein möglich war – er spendete Trost, verhielt sich freundlich, verlor das große Ziel nicht aus den Augen: Im Sinne Gottes ein Volk am Leben zu erhalten, seine Brüder und deren Kinder zu versorgen – trotz der dunklen Vorgeschichte, unabhängig davon, ob sein Tun und seine Liebe Erwiderung finden.

Wie immer es von da an weiterging – in den vielen Jahren bis zu Josephs Tod jedenfalls herrschte Frieden, Katastrophenmeldungen blieben aus. Das ist doch schonmal was!

Er ist mir sehr sympathisch, dieser heilsame Pragmatismus in der Josephsgeschichte: Er nimmt die Sehnsucht, den Hunger nach Heilung ebenso ernst wie erlittenes Unrecht, Schuld oder Scham. All dem muss Raum gegeben werden, sonst ist der Boden für neue Konflikte schon bereitet. Viel wichtiger ist es doch, Unmut und Misstrauen die Nahrung zu entziehen und die Hoffnung zu stärken, bis sie groß genug ist und irgendwann wieder von alleine trägt.

Und wir, lassen auch wir uns erinnern an die Liebe unseres Vaters im Himmel, und verlieren auch wir nicht das große Ziel aus den Augen, wenn wir jetzt durch die nächsten Wochen und Monate gehen. Auf die Dunkelheit des Karfreitags folgt das Staunen über Ostern und der Neubeginn zu Pfingsten: Das Fest des Heiligen Geistes, der auch als Tröster und Beistand bezeichnet wird.

Er ist es, der uns Christen ein freundliches Gesicht verleiht auch in schwierigen Zeiten: Er stärkt die Hoffnung von uns und anderen Hungernden, macht das gegenseitige Ertragen und Erdulden erträglicher und lässt das Licht seiner Barmherzigkeit leuchten auf dem Weg.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft,
bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.