Manchmal soll man ja die Dinge „nicht so eng sehen“: Man soll stattdessen vielmehr gnädig sein, also Nachsicht üben, über kleine Unzulänglichkeiten hinweggehen und sich mit Kritik besser zurückhalten. Das hilft, um z.B. eine Familienfeier gut über die Runden zu bringen: „Jetzt erzählt Opa schon wieder die alten Geschichten; was die jungen Leute bloß für verrückte Vorstellungen haben; das Kleid sieht doch unmöglich aus, aber naja!“
Dinge „nicht so eng“ zu sehen, das wird auch in der Kirche oft empfohlen: Sind wir nicht alle kleine Sünder? Und sind wir nicht alle vor Gott gleich? Das hilft, um das manchmal durchaus anstrengende Gemeindeleben etwas einfacher zu machen, oder zumindest sich weniger zu ärgern bei gelegentlich auftretenden Unstimmigkeiten.
Es gibt freilich eine Sache, da ärgere ich mich sehr – und zwar, wenn es um das liebe Geld, um das Wirtschaften in der Kirche geht: Da fragt man sich bei den einen, ob sie bei wenig Gottvertrauen womöglich auch gar keine Rücklagen haben – und bei anderen, ob bei ihnen das Geld aus einer geheimnisvollen Quelle sprudelt, aus der man frei und unbekümmert allezeit schöpfen und verteilen kann!
Keine Frage: Es lohnt sich immer, genau hinzusehen, sorgfältig abzuwägen, was vielleicht doch noch irgendwie geht, oder wo man Pläne notgedrungen ändern und anpassen muss. Und ich denke, auch Paulus wusste das: Er war kein Romantiker, sondern hatte genug Krisenerfahrungen gesammelt, um mit eigenen Ressourcen und denen anderer verantwortungsvoll umzugehen.
Er kannte beides: Die Wertschätzung dessen, was hart erarbeitet ist, sich einem hohen Einsatz verdankt – und die Notwendigkeit, wo es gefordert ist auch mal loszulassen im Vertrauen und ohne Sorge, ob die Rechnung am Ende wirklich ganz aufgeht.
Das Erntedankfest kennt ebenfalls diese beiden Seiten: Den sichtbaren Lohn manch großer Mühe und die Dankbarkeit für das, was dabei unsichtbar am Wirken war, ganz ohne unser Zutun. Erntedank erinnert uns daran, dass das Gesetz von Saat und Ernte kein starrer Automatismus ist, dass ein reicher Ertrag nicht wie selbstverständlich erwartet werden kann!
Als ich auf einem Dorf in Nordhessen aufwuchs (ein halbes Jahrhundert ist das schon her), da gab es im Ort noch sechs Bauernhöfe – und ja, Erntedank war nicht immer gleich: Im einen Jahr konnte man den Altar kaum erkennen bei der überbordenden Fülle an Feldfrüchten, wie letzte Woche in Theuma, doch im Jahr darauf fielen Ernte und auch der Altarschmuck auch schonmal bescheidener aus.
Diese Schwankungen wurden allerdings immer geringer: Die Bauern gaben nach und nach ihre Höfe auf, und die Erntegaben kamen hauptsächlich aus dem heimischen Garten oder direkt aus dem Supermarkt. Das ist überhaupt nicht schlimm, denn der persönliche Bezug zu den selbstgepflückten Äpfeln, den Blumen oder der Kiste Kirschsaft ist ja weiterhin da, und wunderschön ist ein so geschmückter Altarraum allemal! Nur hängen unsere Existenz, unser Wohlergehen nicht mehr unmittelbar davon ab – unsere Güter sind oft anderer Natur, unser Säen und Ernten findet meist auf anderen Feldern statt.
Was bringe ich dieses Jahr an meinen ganz persönlichen Erntedank-Altar? Schubkarrenweise reiche Dankesgaben, groß, farbenfroh und herrlich duftend – oder nurmehr eine Handvoll schrumpeliger saurer Früchte, weil die Sonne fehlte oder der Boden zu hart war? Öffentlich vor der Gemeinde mag man so etwas nicht ausbreiten: Aber derlei Ernteausfälle, die kennen wir wohl alle, und nicht wenige unter uns wissen schmerzlich wie es ist, wenn man mit Freude sät und unter Tränen erntet.
Ja, es ist wohl als eine Gnade zu begreifen, wenn hier nicht ungefiltert alles auf den Tisch kommt und das weniger Ansehnliche außen vor bleibt – so ähnlich wie bei einer Familienfeier, wo man besser verschweigt, was schwer wiegt und andere belasten könnte. Doch die Feier des Erntedank soll vor Gott auch das in den Blick nehmen, denn sie ist weit mehr als das exklusive Fest der Privilegierten und Beglückten:
Der Psalm hat es eingangs gut zum Ausdruck gebracht: „Wenn du deine Hand auftust, so werden sie mit gutem gesättigt. Verbirgst du dein Angesicht, so erschrecken sie“. Unser Erschrecken, unsere Enttäuschungen, unser freudiges Staunen und die Geborgenheit im Segen – das alles reicht weit hinaus über das flüchtige Sekundenglück, das uns an so vielen Stellen als heilsbringend versprochen und aufgedrängt wird.
An Erntedank feiern wir nicht nur solche kleinen Freuden, sondern auch das große Glück, nicht auf der einen oder anderen kargen Ernte sitzenbleiben und nicht auf den Scherben unseres Lebens stehenbleiben zu müssen. Jenes „Warum ich“, das wir uns ja so oft fragen und so oft beklagen – hier begegnet es in umgekehrter Form: Was ist der Mensch, dass du dich seiner annimmst? „Dass der Wein erfreue des Menschen Herz, dass sein Antlitz schön werde vom Öl und das Brot des Menschen Herz stärke“?
An Erntedank blicken wir zurück, aber auch nach vorne. Wir feiern keinen Jahresabschluss, sondern das Vertrauen auf Gottes gute Führung im Rhythmus und in den Wechselfällen des Lebens. Im Wort Vertrauen klingt das Wort „Treue“ mit – die Treue Gottes, die unverbrüchlich gilt auch dort, wo mir die Hände nicht so reich gefüllt werden, wo ich womöglich leer ausgehe. Meine Treue zu Gott, die über meine Bedürfnisse hinausblickt auf den Nächsten, auf die Welt, in der ich lebe, die nicht fixiert ist auf das hier & heute, sondern die das Leben im Ganzen betrachtet.
An Erntedank geht es um das Leben in Gegenwart und Zukunft. Bei Paulus im Predigttext kommt das ganz profan zum Ausdruck: Die junge, aber reiche Gemeinde in Korinth möge doch bitte Geld spenden für die Schwestern und Brüder in der Jerusalemer Urgemeinde.
Auch bei uns wird regelmäßig aufgerufen zu Spenden und Kollekten, über Kirchensteuer und Kirchgeld hinaus, für Reparaturarbeiten, besondere Projekte oder sonstige gute Zwecke. Manche Menschen regen sich darüber auf und meinen, die Kirche könne den Hals wieder nicht vollkriegen. Andere geben gerne und freuen sich, wenn z.B. eine Partnergemeinde im Ausland dadurch das kaputte Dach vom Gemeindehaus abdichten kann.
Eine Gewinn- und Verlustrechnung aufzumachen ist manchmal gar nicht so leicht, und ob man als Geber nun immer fröhlich sein muss, das weiß ich nicht. Aber aus Dankbarkeit zu handeln, das ist etwas ganz anderes als eine alte Rechnung zu begleichen: Dankbarkeit ist ein überaus edles Gefühl, denn darin drückt sich eine gelebte Beziehung aus, da ist Demut keine Phrase, da strahlt man Freude aus.
Ich bin dankbar – dem Geber für das Geschenk, ich bin demütig im Bewusstsein, gänzlich unverdient zu etwas Kostbarem, Bedeutsamen gekommen zu sein, und das alles hebt mein Herz, macht es leicht und froh, denn ich merke: Hier hat sich ein anderer für mich bemüht, wohl weil ich es ihm wert bin, obwohl ich nichts groß dafür getan habe. Und die Freude lässt sich sogar noch steigern, wenn ich sie genauso weitergebe, wenn zum Empfangen noch das Teilen dazukommt!
Und wenn wir ganz genau hinschauen, dann müssen wir tatsächlich manches nicht mehr so eng sehen: Verantwortung zeigen, ja, Sorgfalt üben, selbstverständlich! Aber aufs Ganze betrachtet, da ist die Saat schon ausgebracht und eine große Ernte gewiss.
Unsere Hände, unser Einsatz, unsere Liebe zu Gott und den Menschen bleiben dabei gefragt, wir dürfen mitwirken und Anteil haben an diesem großen Werk, und Anteil haben an dem großen Reichtum, der sich da auftut. Ein guter Grund also für Dankbarkeit, die nicht stehen bleibt im Rückblick, sondern das Herz bewegt, die Liebe über alles regieren lässt und unserem Leben einen guten Weg weist.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft
bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.