Auf Bewährung

Der heutige Sonntag Invocavit ist der 1. Sonntag der Passionszeit. Insgesamt sechs Passionssonntage gehen auf Karfreitag und Ostern zu, und er steht am Anfang. Abwarten, aushalten, durchhalten – diese Kunst fällt uns Menschen seit jeher schwer, noch dazu, wenn sie mit Verzicht verbunden ist: „7 Wochen ohne“, so lautet das Motto der jährlichen Fastenaktion der evangelischen Kirche.

Sieben Wochen, das scheint zunächst nicht viel – aber eine solche Zeitspanne reicht bereits aus, um unseren Alltag spürbar zu beeinflussen und zu verändern. Sieben Wochen mal keine Schokolade, keinen Wein und kein Bier, kein Fernsehen oder was sonst alles zu den kleinen Versuchungen des Alltags gehört – das ist viel schwerer, als es auf den ersten Blick aussieht!

Wie schwer mag es erst sein, wenn es um wirklich wichtige Dinge geht? Die 7 Wochen, die rund 40 Tage bis Ostern, sie erinnern an die 40 Tage, die Jesus in der Wüste war, allein, dem Hunger und den Versuchungen des Teufels ausgesetzt – wir haben es vorhin im Evangelium gehört. Eine teuflische Versuchung ist nicht gleich als solche zu erkennen, vielmehr kommt sie verlockend und ungemein überzeugend daher:

Bibelzitate werden bemüht, um Jesus in die Irre zu führen – wie hinterlistig und perfide! Ob ich immer einen scharfen Blick für die feinen Unterschiede und das richtige Textverständnis habe – wer weiß? 40 Tage sind bereits eine lange Zeit, um nicht doch irgendwann in die fein gesponnenen Stolperdrähte des Teufels zu laufen. Seit einer Woche ist Krieg in der Ukraine, seit zwei Jahren beschäftigt uns eine Pandemie, 40 Jahre war das Volk Israels unterwegs, bis es endlich ins gelobte Land kam: Da lauern viele Gefahren, das hinterlässt tiefe Spuren.

Die Gemeinde in Korinth war offenbar auch einigen Gefahren ausgesetzt, gleich zwei Briefe des Paulus sind uns dazu überliefert – und wer glaubt, dass „früher alles besser war“, der wird darin eines Besseren belehrt! Eines der Probleme ist das Auftreten neuer Missionare: Sie geben klare Antworten, bieten einfache Lösungen, gewinnen schnell Menschen für die gute Sache – was will man dagegen sagen? Und mal ehrlich: Diese komplizierten Schachtelsätze eines Paulus mit ihrem ständigen „wenn“ und „aber“, die versteht doch kaum einer!

Paulus waren solche und viele andere Vorwürfe nicht fremd. Sie klingen in seiner langen Aufzählung durch: Das Unverständnis, die Zurückweisung, das eigene Versagen. Gute Miene zum bösen Spiel, Zuversicht trotz mancher Rückschläge: Diese schwere Kunst beherrscht Paulus mittlerweile, durch diese harte Schule ist er in seinen langen Jahren gegangen – das unterscheidet ihn von jenen vermeintlichen Glanzgestalten, die jetzt in Korinth auftreten.

Paulus hat das ganze Spektrum kennengelernt, er zählt es auf, was ihm an Schwerem auferlegt wurde: Geduld, Trübsal, Ängste und Schläge, Verfolgung und Entbehrungen. Das ist seine ganz persönliche Passionsgeschichte, seine Wüstenerfahrung, deren Dauer und Länge noch im Dunkel liegt. Doch er, Paulus, gibt nicht auf und steckt den Kopf nicht in den Sand – er spannt den Horizont weiter, über den Augenblick und das eigene Erleben und Wünschen hinaus. Das öffnet die Augen für all das andere, Schöne: Langmut und Freundlichkeit, Liebe, die sich nicht verstellen muss, Wahrheit und Gerechtigkeit und die Kraft Gottes.

Mit dieser Erfahrung ausgerüstet wagt er sich in den wechselhaften Alltag seiner Zeit und setzt sich ihren verwirrenden Widersprüchen aus: Der Ehre und der Schande, den guten und den bösen Gerüchten. Man beschimpft ihn als Verführer? Sollen sie doch – er bleibt für sich bei der Wahrheit! Er sei nicht mehr gesellschaftsrelevant? Das mag denken, wer will – doch jeder weiß, wo er zu finden ist. Ein Relikt der Vergangenheit? Nun, der Untergang der Kirche wird auch schon seit Jahrhunderten behauptet, und doch sind wir heute hier.

Die Fröhlichkeit allerdings, die fehlt uns manchmal. Die Traurigkeit angesichts von Unabänderlichem, die lassen wir nicht immer an uns heran. Und dass wir arm wären und viele reich machen, das können wir auch nicht behaupten – in vieler Hinsicht ist es umgekehrt!

Die Bewährung in der Verführung – daran können wir wohl alle noch arbeiten: In den 40 Tagen der Passionszeit, in den Krisen dieser Welt wie in unserem eigenen Alltag. Am Ende ist es eine lebenslange Übung, die uns, von Teufeln und Engeln umgeben, viel abverlangt. Es ist ein Weg, für den wir Stärkung brauchen, kräftigere Nahrung als Schokolade. Es ist ein Weg, auf dem wir nicht zu viel Ballast mitschleppen sollten, um ans Ziel zu gelangen:

Die Tradition des Fastens meint darum auch keine Selbstbestrafung, sondern soll vielmehr frei machen und leicht. Der Rückzug in die Einsamkeit, er lässt das laute Stimmengewirr auch mal verstummen und hilft, auf unser Herz zu hören. Selbst die Langeweile, und sei es bei viel zu langer Predigt, auch auf ihr ruht der ganz eigene Segen des Aushaltens und Durchhaltens.

Geschichten vom Anfang sind meistens Geschichten von Bewährungsproben, auch in der Bibel. Sie erzählen vom glücklichen Bestehen wie auch von der Erfahrung des Scheiterns. Der heutige 1. Sonntag der Passionszeit steht ebenfalls für einen solchen Anfang:

Anders als der 1. Advent steht er nicht unter dem hellen Stern, der alle zum Gottessohn in der Krippe weist. Er weist auf den dunklen Weg, der uns zu den schlafenden Jüngern im Garten Gethsemane führt, zu Leiden und Verrat, zu Jesu Tod am Kreuz und schließlich seiner Auferstehung. Nehmen wir ihn auf uns, diesen Weg, und verzichten wir auf verführerische Abkürzungen, deren Ende wir nicht kennen.

Dietrich Bonhoeffer schrieb: „Gott verbindet sich mit Glück und Unglück, um Menschen auf seinen Weg und zu seinem Ziel zu führen… Und das Ziel heißt: Wir bleiben in Gott und Gott bleibt in uns.“

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft
bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.