Zweimal im Jahr wird auch nachts Gottesdienst gefeiert: An Heiligabend betreten wir die Kirche, wenn der letzte Tag des Advent, der Erwartung Christi vorbei und die Stunde seiner Geburt gekommen ist. Wenn über dem Volk, das im Finstern wandelt, das Licht aufgegangen ist, wenn Hirten und Könige staunend an der Krippe stehen und Gottes Sohn anbeten.
Heiligabend, da kommen wir nach Hause: Dorthin, wo wir noch Kinder waren und wo wir es noch immer sind als Töchter und Söhne Gottes. Ganz anders die Feier zur Osternacht:
Die notorisch Bettflüchtigen mag es nicht stören, doch den meisten dürfte der verkürzte Schlaf noch in den Knochen stecken. Wir kommen in der Stille, als läge Jesus noch im dunklen Grab, als würde die kalte Hand des Todes noch immer schwer auf unserer Welt liegen. Kein helles Glockengeläut hallt durch den Ort. Anstelle eines Lichterbaums scheint nur die Osterkerze.
Müsste es nicht umgekehrt sein? Wozu das Weihnachtsfest, wenn es kein Fest der Auferstehung gäbe? Ist das nicht der eigentliche Höhepunkt des Kirchenjahres? Nun, wer schonmal ein großes Fest ausgerichtet hat, der weiß, wieviel auch von den geladenen Gästen abhängt:
Und so sehr ein Krippenspiel, der Weihnachtsschmuck und die bekannten Lieder selbst Kirchenferne bewegen und berühren, so sehr befremdet die Osterbotschaft in ihrer unglaublich steilen Aussage: Christ ist erstanden („aus der Marter allen. Des sollen wir alle froh sein, Christ will unser Trost sein – Kyrieleis“): Wir haben es eingangs gesungen und gehört.
Schlaftrunkene und Müde sind meist nicht gut bei Stimme. Erschöpft sind jene, für die eine lange Nacht des Wachens und Betens zu Ende geht – zum wievielten Male? Aufgerieben im ständigen Kampf zwischen Hoffen und Bangen will keine rechte Feierlaune aufkommen.
Der heimelige Zauber der Weihnacht, er weicht zu Ostern einem großen Mysterium, das unseren Glauben fordert. Auferstehungszeugen brauchen eine gewisse Anlaufzeit, das unterscheidet sie von leichtfertigen Ideologen und Schwärmern.
Der Verfasser des Kolosserbriefes hatte mit solchen Menschen leidvoll zu tun: Gnostiker, das heißt soviel wie „die, die Bescheid wissen“, waren in der Antike verbreitet und hatten sich auch unter die noch junge Gemeinde gemischt. Für sie war die Welt ein Kampfplatz überirdischer, elementarer Mächte, denen man ausgeliefert war.
Manche Menschen versuchten, sich dem zu entziehen durch strenge Enthaltsamkeit – nichts mit der Welt zu schaffen zu haben schien ihnen der einzig gangbare Weg. Andere führten ein Leben in Ausschweifung, sei es, weil ihrer Ansicht nach eh nichts half, oder weil sie sich schon vollkommen erlöst wähnten und daher keinen Regeln mehr beugen wollten.
Wir dürfen uns die ersten christlichen Gemeinden nicht vorstellen als einen Hort sicheren, unverbrüchlichen Glaubens – das ist Romantik fern aller Realität! Die Gläubigen damals mussten noch Formen und Strukturen entwickeln, hatten noch wenig Verbindliches, an dem sie sich ausrichten konnten. Die Gnostiker hatten da entsprechend leichtes Spiel und wussten in ihrer Selbstsicherheit durchaus den einen oder anderen zu überzeugen.
„Das habt ihr doch gar nicht nötig“, will der Kolosserbrief sagen: Ihr braucht euch nicht künstlich einzuschränken, und müsst auch nicht so tun, als sei alles erledigt und vorbei. Solche Zwänge passen nicht zu dem, worauf euer christlicher Glaube sich stützen kann!
Ihr mögt euch klein fühlen in Euren Zweifeln, in Eurer Angst. Doch zeigt ja beides auch, wie wichtig euch das Leben ist, euer eigenes und das eurer Lieben. Auch Gott ist es wichtig und lieb: Darum hat er seinen Sohn gesandt, ihn Mensch werden lassen wie wir. Darum ist vorangegangen bis in den Tod und hat ihn überwunden durch seine Auferstehung. Ihr mögt euch klein fühlen – doch euer Glaube in allem Zweifel macht euch groß, und Gottes Liebe macht euch groß.
Liebe Gemeinde, Weihnachten ist das Fest der Freude über das, was kommen wird. Ostern ist das Fest über das, was neue Wirklichkeit geworden ist – auch wenn wir sie schwer fassen!
Wir dürfen aufbrechen, wo andere uns sagen, dass wir uns damit abfinden sollen. Wir dürfen ablegen, woran wir uns zu sehr gewöhnen. Wir dürfen übernehmen, was uns in Christus begegnet ist: Herzliches Erbarmen, Freundlichkeit, Demut, Sanftmut und Geduld, wie es weiter im Kolosserbrief heißt, und Liebe, die das ist das Band der Vollkommenheit.
Leben im Glauben, Leben nach Ostern als Christen, das ist ganz sicher nicht ein Leben in strahlender Vollkommenheit. Wenn ich morgens in den Spiegel blicke, dann sehe ich nicht viel von jenem „neuen Menschen“, im Gegenteil: Der Kerl sieht von Tag zu Tag älter aus! Leben nach Ostern, das ist vielmehr ein Leben in gewisser, ja auch froher Erwartung:
Blicken wir nach unten, auf uns selbst in dieser Welt, da sehen wir sie, die Vergänglichkeit, spüren wir, wir sehr alles Stückwerk ist und zum Scheitern verurteilt. Doch blicken wir nach oben, auf Christus hin im Dämmerlicht des Ostermorgens, bekommen wir eine Ahnung von der Herrlichkeit, die uns erwartet. Ein neuer Horizont, der uns frei macht, eine neue Hoffnung, die alle Grenzen überwindet und neues Leben schenkt.
Liebe Gemeinde, auch zu Ostern kommen wir nach Hause: Es ist kein unbeschwertes Fest, es kennt so viel Schmerz, so viel Leid, so viel Tränen, ja selbst das Unerbittliche des Todes. Es ist das Fest des neuen Lebens, das durch das Kreuz hindurch gegangen ist.
Der Krieg in der Ukraine und zwei Jahre Pandemie haben uns auf besondere Weise aufgerüttelt, haben uns gezeigt, in was für eine Welt die Osterbotschaft gesprochen wird. Sie ruft zur Umkehr, lädt ein heimzukommen zu dem, der uns ins Leben rief und uns eine neue Welt verheißt.
Es war kein kleiner Stein, der weggerollt wurde von dem Grab. Es ist kein kleiner Stein, der den Blick auf das Osterwunder versperrt. Zweifeln und Zagen war auch den ersten Zeugen der Auferstehung nicht fremd, doch zugleich wuchsen in ihnen befreiender Glaube und verwandelnde Liebe:
Gottes Geschenk auch an uns, das uns fröhlich singen und feiern lässt auch in dunkler Nacht und an jedem neuen Morgen.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunftbewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.