„Nun mach doch nicht so ein Gesicht!“ Wie oft bekomme ich das zu hören: Wie oft sagen mir die Leute, wie edel und großmütig doch mein Vater ist! Wie stolz ich auf ihn sein kann! Ein wahres Vorbild, und ich solle mir ein Beispiel daran nehmen.
Meist, wenn mir die alte Geschichte erzählt wird, dann nicke ich freundlich und stimme zu: Ja natürlich, unglaublich war das, wie mein jüngerer Bruder damals wieder aufgenommen wurde – es gab keine Standpauke wegen seines verkorksten Lebens und des durchgebrachten Erbes, sondern im Gegenteil: Ein großes Fest wurde gegeben bei seiner unerwarteten Rückkehr. Seine schmutzigen Lumpen wurden weggeworfen, und mein Bruder stand schon nach kurzer Zeit wieder da, als sei er nie fortgewesen: Gut gekleidet, gut umsorgt und dicht umlagert von fröhlichen, lachenden Menschen.
Ja, sage ich dann, ihr habt ja recht. Das war eine große, wunderbare Sache damals, und ich war dumm, dass ich mich ungerecht behandelt sah. Das hat mir mein Vater dann ja auch erklärt. Damit geben sich die Leute zufrieden, sehen sich bestätigt und lassen mich wieder in Ruhe. Doch jede Begebenheit hat eine Vorgeschichte, und das Leben ging natürlich weiter nach jenem großen Fest!
Mein jüngerer Bruder hatte es immer ein wenig besser als ich: Früher, da musste ich mich oft um ihn kümmern. Vieles, was ich mühsam erlernt oder mir erarbeitet hatte, konnte er einfach so übernehmen. Der Vater war auch viel geduldiger mit ihm, und wenn mein lieber Bruder eine Aufgabe mal nicht richtig erledigte, durfte ich das auch noch regeln. Zwischen uns herrschte immer eine gewisse Ungleichheit, und die machte mir das Leben nicht einfach.
„Nun mach doch nicht so ein Gesicht“ – den Satz hörte ich schon damals oft, wenn ich mich ärgerte über die Vorteile, die mein Bruder genießen durfte, und die Arbeit, die ich mit ihm und meiner Stellung als „Großer“ hatte. Als er dann auf einmal sein Erbe einforderte und fortzog, war das natürlich bitter für meinen Vater, und auch ich war fassungslos: Ausgerechnet er, der Jüngere, der kleine Liebling brach mit allen Regeln des Anstands. Als ob uns nichts verbinden würde, ließ er seine Familie zurück.
Ich habe mich für sein Verhalten geschämt, damals, dachte mir aber auch: So, jetzt weiß jeder Bescheid! Jetzt komme ich zu meinem Recht. Doch so kam es nicht. Mein Vater hing an meinem Bruder – trotz allem, was vorgefallen war. Er gab die Hoffnung nie auf, und ich – naja, ich war ja sowieso da, um mich musste man sich offenbar keine Sorgen machen. Als ob ich keine Wünsche hätte, keine Träume von der weiten Welt! Mal alles über Bord werfen, frei sein von aller Umsicht und Rücksicht und es mal so richtig krachen lassen – das hätte mich auch gereizt!
Stattdessen arbeitete ich weiter auf dem Hof, noch mehr als vorher, und mein Vater hielt mich weiterhin kurz, was Vergnügen und Freizeit betraf. Das hat mich verletzt: Der Ärger über meinen Bruder, bevor er uns verlassen hatte, die Zeit danach, wo ich mich unbeachtet glaubte, und dann die groß gefeierte Rückkehr des „verlorenen Sohnes“.
Verloren fühlte ich mich auch manchmal, obwohl ich daheim geblieben war. Wer weiß, was ich gefunden hätte, wenn ich auch fortgegangen wäre? Wer weiß, was mir alles entgangen ist? Auch heute noch kommen mir manchmal solche Gedanken, ich leugne das nicht. Mit der Zeit erst, nach und nach lernte ich zu schätzen, was mein Vater mir damals sagte: „Mein Sohn, du bist allezeit bei mir und alles, was mein ist, das ist dein.“
Was er damit meinte, war: Du brauchst nicht auf das Erbe zu warten, es gehört dir bereits! Deine Arbeit, deine Mühe – das ist nicht für mich, das ist keine Vorleistung, für die dann du dann später irgendwann einen Lohn erhältst: Sieh dich doch um! Du stehst auf dem Land, das Du bebaust, du erntest die Früchte, du bist bereits daheim, an einem Platz im Leben, nach dem andere lange suchen. Innerer Frieden, Arbeit und Gebet, Hoffnung und Geduld:
Es brauchte Zeit, bis das in mir gereift war und Liebe daraus erwachsen konnte – Liebe für meinen Vater, Liebe sogar dann auch für meinen unmöglichen Bruder. Es brauchte Zeit, bis wir einander näherkamen und ich begriff, dass auch ihm damals bei seiner Rückkehr nicht zum Lachen zumute war:
Er schämte sich vor seinem Vater, vor mir, vor den Leuten. Mein Bruder konnte natürlich nicht vergessen, was er getan hatte, wie er sich verhalten hatte, wie tief er gestürzt und womit er sich schuldig gemacht hatte.
Im Grunde haben wir beide unseren Vater damals nicht verstanden, uns beiden erschien er rätselhaft und fremd in seiner Großherzigkeit, seiner überschwänglichen Freude und Feierlaune. Ich denke, auch viele der Gäste, die bei der Feier dabei waren, schüttelten heimlich den Kopf: So fremd, so ungewöhnlich, so ungetrübt liebevoll erschien er allen, selbst denen, die meinten ihn gut zu kennen.
Er machte einfach einen neuen Anfang – mit meinem Bruder, aber auch mit mir, als er damals meinen Zorn bemerkte und zu mir kam, um mich wieder hereinzubitten.
„Denke an die Worte deines Vaters!“ Wie oft bekomme ich das von den Leuten zu hören. Ich frage mich, ob sie wirklich verstehen, worum es damals ging. Mein Vater hat mir meinen Zorn damals nicht übelgenommen. Er verstand mich, und er verstand auch, dass mein verletztes Herz seine Worte nicht gleich aufnehmen und fröhlich werden konnte. Er verstand mich genauso gut wie meinen Bruder, der aus blanker Not wieder zurückgekommen war und vor Scham beinahe im Erdboden versank.
Wir waren keine Wunderkinder – und doch sein ganzer Stolz. Wir waren noch blind für diese schier grenzenlose Liebe unseres Vaters, und sind es auch heute noch sehr oft. Wir sind uns sehr ähnlich, mein Bruder und ich, das haben wir mittlerweile gemerkt. Wir haben uns viel erzählt, später dann:
Er sagte mir, wie neidisch er oft auf mich als den großen Bruder war, der immer alles besser wusste und konnte. Ich erfuhr, dass seine Abenteuer draußen in der Welt auch nicht frei waren von Enttäuschungen, Bitterkeit und Tränen. Wir lernten einander besser kennen und verstehen. So wurde er auch für mich wirklich ein Bruder, und nicht mehr nur der „andere“, der Liebling oder der Lästige.
Wir sind jetzt gemeinsam unterwegs, bei allen Unterschieden und Eigenarten. Wir sehen weiter, als wir es früher taten, und wir bewerten vieles anders als damals – auch unsere Mitmenschen. Die Glücklichen, die Enttäuschten, die Ehrgeizigen und die Verfolgten: Bei allem, was sie uns fremd erscheinen lässt, merken wir doch eine tiefe Verbundenheit zu ihnen. Auch sie sind uns zu Brüdern und Schwestern geworden.
„Ganz wie der Vater, die beiden“ – wir freuen uns, wenn die Leute so reden. Wenn auch bei uns ein wenig von der großen Liebe unseres Vaters spürbar ist, dann sind wir ohne Zweifel seine Söhne und merken zugleich, wieviel wir ihm verdanken.
„Nun mach doch nicht so ein Gesicht!“ Wenn mein Bruder mir das heute sagt, hole ich tief Luft – und kann wieder lächeln. Wenn mal etwas nicht so läuft wie geplant, machen wir uns gegenseitig Mut und suchen gemeinsam eine Lösung. Unser Vater hat das eigentlich ganz gut hinbekommen, damals, mit uns verlorenen Söhnen. Und große, fröhliche Feiern gibt es seitdem immer wieder. Ich glaube, darüber freut er sich am meisten.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft
bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.