An der Grenze

Hier ist einer am Ende. Hinter dem Vater des „besessenen Knaben“ liegt bis zu seiner Begegnung mit Jesus bereits ein langer Weg – voll von widerstreitenden Gefühlen, voll Verzweiflung, Hoffnung und Ratlosigkeit.

So wie er schwerkranke Kinder zu haben, das bedeutet mehr als vor einer rein medizinischen Herausforderung zu stehen. Die Fürsorge für das Kind verlangt viel ab: Zeit, Geduld, stete Wachsamkeit auch auf kleinste Anzeichen eines erneuten Anfalls.

Vielleicht hat der Vater ja ein gutes Umfeld aus Verwandten und Freunden, vielleicht auch eine Frau und weitere Kinder zur Seite, die ihn unterstützen und etwas Arbeit abnehmen. Gut möglich aber auch, das er allein da steht, ganz nebenbei noch Geld verdienen und den gewöhnlichen Alltag meistern muss. Dann ist es umso wichtiger, seine Kräfte gut einzuteilen, sich nicht zu verschätzen wie auch auf kühne Träume und hochfliegende Pläne zu verzichten.

Und ganz sicher wird es hier und da auch Versagen gegeben haben: Einen Moment, wo der Vater mal nicht aufgepasst hat. Augenblicke, wo ihm letztlich doch die Nerven durchgingen. Enttäuschung und Zorn in Gedanken und Worten, für die er sich im Nachhinein schämte. Menschen, die sich im Leben solch schweren Aufgaben stellen müssen, leisten enorm viel – und sind meist weit entfernt davon, stolz auf sich zu sein: Zu genau kennen sie ihre Grenzen.

Sie kennen ihre Grenzen, aber auch die ihrer Mitmenschen: Sie haben erlebt, wie andere sich abwandten, die Straßenseite wechselten, weil sie mit dem Anblick von Krankheit und Schwäche nicht umgehen konnten. Betroffene lernen, ihre Sonderrolle zu akzeptieren, ihren Ärger zu unterdrücken, wenn andere mit vermeintlich klugen Ratschlägen daherkommen: Als ob sie, oder wie hier der Vater nicht längst alles Menschenmögliche ausprobiert hätte!

Ihm ging es da manchmal wohl wie Hiob, der eines Tages kurz nacheinander Wohlstand, familiäres Glück und schließlich auch noch die Gesundheit verlor. In seinem Elend besuchen ihn die Freunde und halten ihm lange Vorträge, die er sich allerdings irgendwann verbittet. Hiob will keine Erklärungen, er will nur eins: Von Gott gesehen und gerettet werden.

Auch Jesus hat solche Grenzerfahrungen gemacht. „Wie lange soll ich euch ertragen!“ ruft er, als ihm der Vater von den vergeblichen Heilungsversuchen der Jünger erzählt. Ja, auch die Jünger meinten es offenbar besser zu wissen. Bestimmt in bester Absicht bemühten sie sich um das kranke Kind, doch auch sie konnten am Ende nicht helfen. Fehlte Ihnen da die nötige Erdung oder „Bodenhaftung“? Oder der Respekt vor der Schwere der Krankheit?

Im Kapitel vor dieser Heilungsgeschichte wird berichtet, wie Jesus mit den Jüngern ein Gipfelerlebnis hatte: Sie waren auf einen hohen Berg gestiegen, wo Jesu Gewand hell zu leuchten begann. Elia und Moses waren erschienen und redeten mit Jesus, und Gottes Stimme sprach aus einer Wolke. Ein absolut überwältigender, paradiesischer Moment, den Petrus, der immer besonders eifrige Jünger, am liebsten für alle Zeit festhalten wollte: „Hier ist gut sein, hier lass uns Hütten bauen!“ – nie wieder zurück in das ungeliebte Jammertal!

Doch dann kommt der unvermeidliche Abstieg, und schon bald darauf wieder das so häufige Versagen der Jünger. Jesus spricht enttäuscht von einem „ungläubigen Geschlecht“ – und es bleibt offen, ob er damit speziell die Jünger oder alle Menschen meint, die herbeigelaufene Menge und den Vater des kranken Kindes eingeschlossen.

Immerhin macht der Vater aus seiner verhaltenen Hoffnung keinen Hehl, wenn er Jesus bittet: „Wenn du etwas kannst, so erbarme dich unser und hilf uns!“ Ja, wenn das Wörtchen „wenn“ nicht wär! Viel Zutrauen klingt nicht gerade aus seinen Worten, viel Verzweiflung und innerer Druck allerdings schon, als er kurz darauf Jesus anschreit. Was war passiert?

„Alle Dinge sind möglich dem, der glaubt“ – dieser Satz bringt den Vater um seine mühsam bewahrte Beherrschung. Als ob das so einfach ist! Und was ist das überhaupt für ein Glaube, von dem Jesus hier spricht? Ist es etwa dieses gewohnheitsmäßige, leidenschaftslose „Für-wahr-halten“, wie es so viele seiner Mitmenschen pflegten? Oder ist es diese konsequente Wegschauen und Verleugnen von Problemen, wie es andere Glaubensbrüder kultivierten, um ihre lieb gewonnenen Vorstellungen von Gott und dem Glauben nicht zu gefährden? Bei dieser Art von Glaube war nicht viel zu erwarten, das hatte der Vater schon oft erfahren müssen.

Und wenn es doch irgendeinen Menschen gäbe, dem dank seines Glaubens tatsächlich alles möglich wäre – wo war der all die Jahre? Als sein kranker Sohn sich auf der Erde wälzte, als er heilfroh gewesen wäre über jede noch so kleine Hilfe – wo hat sich in dieser Ohnmachtserfahrung denn dieser allmächtige Glaube gezeigt? „Ich glaube – hilf meinem Unglauben!“

Hier ist einer am Ende. Die widerstreitenden Gefühle, sie haben auch sein Innerstes, sein tiefstes Vertrauen und seinen Glauben mit jeder Faser erfasst. Da ist nichts, was verschont wurde, was unversehrt blieb. „Wir sind Bettler – das ist wahr“ schrieb Martin Luther einst, und genau so dürfte sich auch der Vater gefühlt haben. Da ist nichts mehr auf dem Konto der Zuversicht und Selbstsicherheit. Der Vorrat an guten Ideen, großen Erwartungen – alles schon aufgebraucht und leer, kurz vor dem Offenbarungseid. Hilfe kann hier nur noch von außen kommen.

Der Vater ist absolut ehrlich zu Jesus. Er hat das tiefe Verlangen nach Heilung seines Sohnes, er hat die Liebe nicht verloren, weder zu ihm noch zu Gott. Doch er weiß: Nur ein Geschenk Gottes, nur ein Wunder, das er selbst nicht erzwingen kann, kann die Situation noch ändern.

Die Liebe ist vielleicht ein guter Schlüssel: Liebende schenken einander. Ich kann mich um die Zuneigung meiner Frau vielleicht bemühen, ihr täglich meine Liebe erklären und diese zu beweisen versuchen durch besondere Aufmerksamkeit – aber all dies würde nichts nutzen, wenn sie mich nicht ohnehin schon von sich aus lieben würde, egal, was ich tue oder lasse.

Ehrliche Liebe schenkt immer einen Anfang. Hier wird nichts abgewogen und berechnet, hier geschieht Annahme und Zuwendung. „Hilf meiner Lieblosigkeit!“ Ja, diese Bitte stünde mir manchmal auch gut zu Gesicht, obwohl ich ja meine Frau wirklich liebe. Aber was vermag ich dabei schon! Wie viel hängt dabei von ihr ab!

Die Kraft der Liebe wie die Kraft des Glaubens ist niemals ein persönliches Vermögen, eine Tugend oder antrainierte Fähigkeit. Sie wächst aus der unverstellten Begegnung und aus der Bereitschaft, sich beschenken zu lassen.

Als Liebende wie als Glaubende haben wir hier „keine bleibende Stadt“, wir können keine Schutzhütten dafür bauen. Wir haben mitunter Gipfelerlebnisse, die uns klare Momente schenken und in Erinnerung rufen, wer wir sind und worauf wir – Gott sei Dank – hoffen dürfen: Wir haben als Christen das Kreuz und die Auferstehung Jesu vor Augen und wissen: Er kennt das Leben, die Höhenflüge wie Tiefpunkte, er kennt uns und unsere Mitmenschen.

Er ist uns vorangegangen, er allein schenkt uns Halt und Zuversicht im Glauben an die wunderbare Wirklichkeit Gottes. Schwer zu begreifen? Ja, natürlich. Wir sind Bettler. Unsere Mittel und Reserven sind bescheiden. Aber Gott interessiert das nicht. Wir sind es, die ihn interessieren. Er geht nicht vorüber, sondern wendet sich uns zu und füllt die leeren Hände.

„Jesus aber ergriff seine Hand und richtete ihn auf, und er stand auf“: Eine Ostergeschichte wird uns da berichtet, mitten im grauen Herbst. Ein Besessener, ein Kranker, wird wieder frei und gesund. Und wir hören von einem Neuanfang, gerade dort, wo jemand am Ende ist. Etwas Vollkommenes, Unerwartetes tritt in das Dunkle des Alltags und lässt es hell werden.

Was mögen die Jünger gedacht haben? Haderten sie mit ihrem gekränkten Glaubensstolz, oder konnten sie sich mit dem Vater und seinem geheilten Sohn freuen? Was mag die Menge der Menschen gedacht haben, als sie Zeugen dieses Wunders wurden? Ließen sie es sich ein Zeichen sein? Konnten sie darin auch eine Botschaft für ihr Leben erkennen?

Es war ein großer Stein, der vom Grab gewälzt wurde am ersten Ostermorgen. Es war Gottes Werk, an dem wir uns nicht messen können mit unseren Kräften und Lebensweisheiten. Und was von Gott kommt, das können wir nicht erzwingen: Nicht in den Krankenhäusern, nicht an den Sterbebetten, nicht in den Sackgassen, in denen wir uns manchmal wiederfinden.

Uns bleibt, um Hilfe zu bitten: Hilfe in Not, Hilfe für unseren Unglauben, Hilfe, wenn doch das Schlimmste eingetreten ist und wie ein Stein auf unserer Seele lastet. Um Hilfe zu bitten, zu rufen und zu hoffen – das ist weit mehr, als Menschen gemeinhin gegeben ist. Und es ist weit mehr, weil wir unsere Bitte an den richten, der an allem Anfang und an jedem Ende mit uns ist:

Im Lärm der Welt, im Durcheinander der Gefühle und Gedanken, da ist seine Stimme mitunter schwer zu verstehen. Doch er hört uns, und er sieht uns, und er macht den Glauben und das Leben neu.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft
bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.