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Brückenbauer

Wozu ist Kirche eigentlich gut? Wozu kann sie dienen? Was ist es, das sie nach so viel Jahrhunderten, neben so viel neuem Wissen und Weisheit und bei so viel Skandalen in der Welt noch zu sagen hat?

Vor allem eine Sache wird da genannt, wenn Kirche, Gläubige, Pfarrerinnen und Pfarrer und Worte von Gott in einer Ausnahmesituation plötzlich wieder gefragt sind. Wenn alles andere versagt, wenn es die Sprache verschlägt und guter Rat teuer ist: Wenn Trost gesucht wird.

„Um Trost ist mir sehr bange“, so heißt es auch beim Propheten Jesaja noch wenige Kapitel zuvor, und ja: Trost gelingt nicht aus der Position der Sicherheit heraus, von oben herab. Da bin ich nicht nah bei dem Menschen, den ich trösten will. Wer tröstet, der wischt vielleicht die Tränen ab – aber Schmerz und Trauer, Verzweiflung und Ohnmacht, all das bleibt erst einmal. All das gehört zur Wirklichkeit, in die der Trost hineinspricht, und diese Wirklichkeit kann in der Tat bange machen und uns das Fürchten lehren!

Harte, neunmalkluge Worte taugen nicht zum Trost. Wer trösten will, verzichtet darum besser auf erhobene Zeigefinger, Vorwürfe und Belehrungen. Das ist nicht die Zeit, zu rechten und zu richten, wenn jemand schon am Boden ist.

„Redet freundlich“, heißt es im Predigttext: Predigt Vergebung, wo Schuld und Strafe schon genug angerichtet haben. Räumt die Steine aus dem Weg, damit es wieder weitergehen kann. Seid Wegbereiter, Brückenbauer, damit niemand in den Trümmern zurückbleibt.

Trost geht in die Knie, geht auf Augenhöhe, nimmt Anteil – braucht aber immer auch ein Ziel, eine Perspektive. Trost versinkt nicht in Mitleid, sondern führt langsam und vorsichtig heraus. Viel Zeit, viel Geduld ist da gefordert. Als unser Predigttext niedergeschrieben wurde, rund 600 Jahre v.Chr., war Jerusalem von Feinden erobert und lag in Trümmern.

Der Tempel war zerstört, die Heimat war verloren, große Teile der Bevölkerung lebten als Minderheit im Exil – und das schon seit zwei Generationen: Eine lange Zeit, die nicht spurlos vorübergeht.

Wissen Sie noch, was Mitte der 60er Jahre bedeutend und prägend war? Und was denken Sie, ist davon für junge Menschen heute noch von Belang? Was davon gilt längst als Schnee von gestern, als „Ostalgie“, als überholt und wertlos? Der Prophet Jesaja predigt darum auch keine „gute alte Zeit“, das würde niemand verstehen, und im Übrigen: Selbst wenn nicht alles schlecht war – so wunderbar und glorreich waren jene Tage nun auch wieder nicht!

Jesaja geht zurück auf Los, zu den Anfängen des jüdischen Volkes: Er erinnert an die Verheißungen an die frühen Glaubensväter, an die Erwartungen eines Trösters und Erlösers. Auch wenn es bitter ist, dass im Exil die alten Werte und Wurzeln verkümmern, die Erinnerungen verblassen, auch wenn die Alten des Trostes bedürfen und die Jungen neuer Hoffnung – dieser Umstand ist im Grunde betrachtet nichts Neues.

All das gab es schon vorher, all das wird die Menschen auch in Zukunft immer wieder neu beschäftigen. Jesaja denkt in größeren Maßstäben, er lenkt den Blick vom Tagesgeschäft auf das Wirken Gottes in Zeit und Ewigkeit.

Das Wort unseres Gottes bleibt ewiglich, lateinisch „Verbum Domini manet in aeternum“: Als Zitat oder abgekürzt „VDMIE“ ist dieser Satz in vielen Kirchgebäuden zu finden, wird Menschen zugesprochen zur Taufe, Konfirmation oder Hochzeit und steht auch auf so manchem alten Grabstein auf unseren Friedhöfen. Ein Leitspruch für unsere Lebenswege, ein Kompass für unsichere Zeiten.

Endlichkeit und Ewigkeit, Schmerzen und Trost – warum reden wir darüber mitten im Jahr, an einem so herrlichen Sommertag? Da könnte es uns die Kirche doch wirklich etwas leichter machen, predigt doch über etwas Schönes!

Stimmt – das ist die eigentliche Aufgabe, und unser Predigttext war vor einigen Jahren noch vorgesehen für die Adventszeit. Er verband sich mit der Verheißung an das „Volk, das im Finstern wandelt“ und ein helles Licht sieht. Es sprach von der guten Botschaft, dass Gott selbst Mensch wurde wie wir, um uns Frieden und Vergebung zu bringen, von der Knechtschaft der Sünde zu erlösen und uns ein neues Leben im Glauben zu schenken.

Heute, am 24. Juni, an den längsten Tagen des Jahres sind wir am weitesten von der Weihnachtsbotschaft des Heiligabend entfernt. Doch sie gilt heute genauso wie an jedem anderen Tag des Jahres und zu jeder Stunde unseres Lebens. Der Trost und die Herrlichkeit, die in ihr steckt, sie will entdeckt werden, muss sich in guten wie in schlechten Zeiten bewähren, muss Anfechtung ebenso standhalten wie spürbar werden in Augenblicken tiefsten Glücks.

Die Ewigkeit, das ist nicht unser Ding: Das übersteigt unseren Horizont und ist allein eine Dimension Gottes. Nicht in uns, aber in ihm können wir Anteil daran haben – ein stückweit schon jetzt, und einst auch in Vollkommenheit. „Er muss wachsen, ich aber muss abnehmen“: Johannes der Täufer sprach diese Worte, als Jesus, der Sohn Gottes auf die Welt gekommen war, predigte und Wunder wirkte.

„Er muss wachsen, ich aber muss abnehmen“: Den letzten Halbsatz haben ich und andere bestimmt als guten Vorsatz für das erste Halbjahr gehabt – nun ja, auch wenn der Geist willig ist, bleibt das Fleisch doch meistens schwach.

Gottes Wort und seine Verheißungen sind da ein Trost, der stärker ist. Und da ist noch so viel mehr, mehr als nur alte Geschichten: „Denn die Herrlichkeit des Herrn soll offenbart werden, und alles Fleisch miteinander wird es sehen, denn des Herrn Mund hat’s geredet. Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt, aber das Wort unseres Gottes bleibt ewiglich“.

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft
bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus – Amen.

(Predigt zum Johannistag 2023)