Aus der Zeit gefallen

Vielen hier unter uns dürfte sie vertraut sein, jene berühmte „Altersweisheit“. Mit ihr wird ein Wissen bezeichnet, das man nicht aus schlauen Büchern gewinnen oder an Hochschulen erwerben kann, sondern das einen das Leben lehrt: In langen Jahren gesammelte, wechselvolle Erfahrungen.

Zu ihnen gesellen sich oft Einsichten, die erst mit der Zeit gereift sind, Enttäuschungen, die noch immer schmerzen, wie auch eine große Gelassenheit in der Erkenntnis, den Augenblick, das hier und jetzt nicht überzubewerten: Manches kommt mit der Zeit von allein wieder, manch merkwürdige Entwicklung verschwindet so rasch wie sie gekommen ist: Die Moden wechseln, doch der Mensch bleibt der Alte!

Viele hier unter uns mussten aber auch miterleben, wie manches dauerhaft verloren geht: Ich weiß noch, wie ich gleich nach dem Mauerfall zur „Wiege der Reformation“ in jenes „andere Deutschland“ reiste – und mich dann mit meiner protestantischen Neugier etwas verloren fühlte:

Die Kirchen, das waren die Gebäude, in denen Demonstranten während der friedlichen Revolution einen geschützten Raum fanden, für Austausch, Aufbegehren, Aufbruch – aber vom christlichen Erbe war nicht mehr geblieben als eine schwindende Minderheit, mit 10-20% Anteil an der Gesamtbevölkerung. Der historisch gesehen „kleine Augenblick“ von 40 Jahren Arbeiter- und Bauernstaat, er hatte weitreichende Folgen.

Immerhin: Allen Bemühungen zum Trotz ist die Kirche weiterhin in vielen Dörfern und Städten erhalten und lebendig geblieben, und das Engagement vieler Menschen wie auch der oft gute Besuch von Gottesdiensten im Vogtland ist unübersehbar und macht Mut!

Jener „kleine Augenblick“ bei Jesaja war etwas kürzer: 30 Jahre, so schätzt man, dauerte das Exil der Israeliten im fernen Babylon. Der politische Wind hatte sich gedreht, die Machtverhältnisse begannen sich zu verschieben, die Hoffnung auf Heimkehr bekam neue Nahrung. Doch was genau gab es zu hoffen?

Was die Alten von früher redeten, das war längst Vergangenheit – der Tempel war zerstört, die Menschen vertrieben, das Land in der Zwischenzeit ein anderes geworden. Die Kraft zum Neuanfang, woher sollte sie kommen? Von den Jungen, die doch nur eine blasse Erinnerung verband mit jener zerstörten „alten Heimat“? Die ihren gewohnten Alltag aufgeben und aus einem Sehnsuchtsort, dessen Realität sie kaum kannten, schon bald einen neuen Ort zum Leben machen mussten?

Gemessen an den Maßstäben der Weltgeschichte, der Menschheits- und Kirchengeschichte, da mögen ein paar Jahrzehnte kurz und unbedeutend erscheinen. Doch für uns macht so ein halbes Menschenleben, eine Generation sehr viel aus:

Die Bilder, die wir vor Augen haben, sind nicht die unserer Kinder und Enkelkinder. Sie stehen heute und morgen vor ganz anderen Herausforderungen, die wir Älteren womöglich gar nicht so erfassen. Muten wir ihnen daher nicht zu, eine vielleicht „gute alte Zeit“ wiederherzustellen, sondern tragen wir lieber dazu bei, dass es eine gemeinsame gute neue Zeit wird!

Heute wissen wir: Der Neuanfang in Israel gelang, damals, nach der Prophezeiung des Jesaja. Und wem ein wenig Altersweisheit vergönnt ist, den wird es nicht wundern, dass wie nach der Befreiung aus Ägypten so auch nach der Heimkehr aus Babylon eine im Grunde wieder recht wechselhafte Geschichte ihren Lauf nahm: Es ging auch damals sehr bald wieder sehr menschlich zu, mit allem, was dazugehört. Um Gottes Spuren darin wahrzunehmen, musste man schon sehr genau hinschauen!

Die Rückkehr in die Heimat, für viele war sie wie für Jesaja gleichbedeutend mit einer Rückkehr zu Gott: Die Zeit in Babylon wurde verstanden als eine Art Strafversetzung – eine Ermahnung, wie es ist, wenn Gott, den man immer weniger beachtete, tatsächlich mal ferne und nicht immer gleich greifbar ist. Ein kleiner Augenblick, eine kurze, nur vorübergehende Phase der Glaubensfinsternis sollte es sein – doch war dieses wenige womöglich schon zu viel?

Ich halte nicht viel von sog. Bewährungsproben. Kluge Besonnenheit begegnet darin ebenso wenig wir Liebe und Vertrauen. Ich denke da an Hiob, der zu einiger Erkenntnis gelangte bei all den Prüfungen, die ihm auferlegt waren – aber zum Leben fand er letztlich nur durch Gott, der ihn erhörte und ihm schließlich wieder sein gütiges Gesicht zeigte.

Ich würde mir niemals anmaßen, Menschen in tiefem Leid, in innerer Verzweiflung unbeirrt Gottvertrauen zu empfehlen: Nur durchhalten! Nicht aufgeben! Nicht nach unten sehen!

Es gibt viele Situationen im Leben, wo wir vor dem Kreuz stehenbleiben und innehalten müssen. Wo es überheblich und grausam wäre, Menschen, denen der Boden unter den Füßen weggebrochen ist, nun noch zu einem Dauerlauf in christlicher Hoffnung aufzufordern: „Wer meint, er stehe, mag zusehen, dass er nicht falle“, schreibt Paulus im Korintherbrief – altersweise und reich an mancherlei Erfahrungen.

Auch die wilde Klage des geschlagenen Hiob, auch die verzweifelte, weil absolut berechtigte Frage nach dem „Warum“ gibt Gott mehr Ehre als jenes leicht Dahergesagte „Es wird schon wieder“: Denn das schmeckt doch verdächtig nach Abwehr des Unangenehmen, nach einer herzlosen Relativierung, die der Situation und den Betroffenen ihre letzte Würde abspricht.

Der „kleine Augenblick“, er bemisst sich ja auch nicht in Tage, Monate, Jahre. Wenn die Welt stillsteht, nach dem Verlust eines geliebten Menschen, nach dem Scheitern eines wichtigen Vorhabens, oder wenn Scham und Schuld mich lähmen – dann ist das absolut, und dann ist es völlig belanglos, was vielleicht irgendwann einmal, ja vielleicht schon „bald“ sein wird. Das sind die Momente, in denen wir Gott am Nötigsten haben und wo es fast unmöglich wird, ihn zu fassen und zu spüren.

„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Jesu Worte am Kreuz sind ein erschütternder Moment, sie machen das „Hinabgestiegen in das Reich des Todes“ unseres Herrn noch einmal auf ganz eigene Weise begreiflich. Gott kennt die Verlassenheit nur zu gut, die wir darum nicht abtun sollten als „falsches Gefühl“.

Grimm, Zorn, Abwendung – wir kennen diese Regungen, die unsere menschliche Realität widerspiegeln, sie gehören zu uns, sie können auch Teil unseres Glaubens sein in dunklen Stunden. Das lässt uns Gott nicht fremd werden: Auch der verborgene Gott ist unser Gott.

Wie sicher viele von Ihnen kenne auch ich sog. „hoffnungslose Fälle“. Gottes Eingreifen, sein Ruf zur Umkehr, seine verwandelnde Liebe, die mir sonst so oft begegnen – ich erkenne sie nicht überall: Nicht in den im Mittelmeer ertrunkenen Flüchtenden, nicht in den unzähligen Kriegsopfern, und leider auch nicht bei einigen Freunden und Verwandten, die mir mit der Zeit fremd und unverständlich geworden sind, wo kein Kontakt mehr besteht.

Mir versagen die Worte, wenn ich für sie beten will. Mich macht vieles traurig, was ungeschehen und unausgesprochen bleibt, wo keine Berge gewichen und Hügel dahingefallen sind, sondern undurchdringlich harte Mauern zwischen Menschen stehen für eine Zeit, die mir wie eine Ewigkeit erscheint.

Unser Text aus Jesaja klingt so wunderschön, er könnte als Leitspruch auf einem Poster gedruckt stehen. Doch je länger ich mich mit ihm beschäftige, merke ich: Es ist ein Text zum „Daran-klammern“, eine Rettungsweste, wenn die Wellen über mir zusammenschlagen und meine Kraft und auch mein Glaube im Dunkel zu versinken drohen. Es ist ein Überlebenstext.

Er macht mir schmerzlich deutlich, dass Glauben auch bedeutet, mit Widersprüchen und offenen Fragen zu leben. Makellos, glattpoliert und immer billig zu haben ist nur die Versuchung, ungetrübt glänzend nur der Stolz, doch sind sie alle letztlich nur wertloses „Spielzeug für Kinder“:

Für den Weg zurück ins Leben ist anderes vonnöten: Geduld, um zu sammeln und wieder zusammenzutragen, was zerstreut ist. Zutrauen, das auch im Neuen Heimat zu finden ist. Offene Ohren füreinander. Gnädig sein, wo Erklärungen versagen. Halt und Hilfe suchen in dem, der für uns Mensch geworden ist, damit wir heute und morgen Glauben finden in ihm.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft
bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.