Harte Landung

Jeder Monat hat seine eigene Botschaft, bringt eine bestimmte Wahrheit zum Ausdruck: Besonders bewusst geworden ist mir das während unserer Zeit im nordsächsischen Obstland, wo die Natur im Wandel der Jahreszeiten sehr eindrücklich zu einem spricht durch wechselnde Farben und Düfte. So weit das Auge reicht: Blühende Plantagen im Frühjahr, sattes Grün im Sommer, leuchtende Früchte im Herbst und wunderbar weiße Landschaften im Winter. Und mit jedem Jahr habe ich immer mehr gelernt, auch die feinen Nuancen zu bemerken in den Übergangszeiten:

Die Natur macht im Grunde nie wirklich Pause. Im Wachsen und Gedeihen, im Werden und Vergehen ändert sie wohl das Tempo und lässt sich manchmal sehr viel Zeit. Aber sie bleibt im Wandel, sie trägt in wirklich jedem Augenblick die Spuren des Lebens in sich, wenn man genau hinsieht.

Im Monat November freilich muss man schon sehr genau hinschauen, um etwas von diesem verborgenen Leben zu bemerken. Kalt und grau liegt alles da, die Farbe ist gewichen, der Boden hart. Und genau hinschauen müssen wir auch bei unserem heutigen Predigttext, der uns statt einer Heilungsgeschichte, statt einer guten Botschaft nun buchstäblich eine Hiobs-Botschaft zu Ohren bringt!

Es ist ein Text aus dem Alten Testament, und doch klingen seine Worte sehr vertraut, haben eine bemerkenswerte Aktualität: „Lasst mich doch in Ruhe mit Eurem Gott“ – haben Sie das nicht auch schonmal gehört? Oder womöglich selber schon für sich gedacht? Wenn die Welt so ist, wie sie ist, wenn die Erfahrungen uns manch bittere Erkenntnis gelehrt haben, wenn wenig Raum für Hoffnungen erkennbar ist: Ist es da nicht vernünftiger, zu akzeptieren und einfach das Beste aus der offenbar unabänderlichen Situation zu machen?

„Realistisch“ solle man sein, so höre ich oft. Und so großen Respekt ich auch vor Menschen habe, die sich harten Tatsachen zu stellen wagen, so sehr macht es mich misstrauisch, wenn solche Forderungen vorschnell über die Lippen kommen: Hoffnung steht vor allem dort nicht hoch im Kurs, wo satter Wohlstand regiert und weitgehende Sicherheit herrscht. Den Kopf zu schütteln, zu jammern, sich dem Weltschmerz und Selbstmitleid hinzugeben, das ist vor allem ein Privileg der vom Leben Verwöhnten!

Fragen Sie mal die alten Leute, wie das war im Krieg, auf der Flucht, in Hungersnot. Fragen Sie mal die jungen Eltern, die auf der Intensivstation um das Leben ihres Kindes bangen. Fragen Sie mal den Angestellten, der nach der Firmenpleite nicht weiß, wie es weitergeht: Sie alle hoffen, mitunter gar wider besseres Wissen. Ihre Hoffnung wird zu einem lebens-notwendigen Gegenentwurf zur Realität, nicht aber um sie zu verleugnen, sondern einfach um die Tür noch offen zu halten für neue Möglichkeiten, für ein künftiges, besseres Leben.

Der Weg dorthin ist oftmals lang, meist auch beschwerlich, das wissen solche Menschen nur zu gut. Und mit diesem Wissen nehmen sie in Kauf, dass sie ihr Ziel womöglich nicht immer erreichen. Sie tragen eine große Last mit sich auf diesem Weg, die eigenen Sorgen wie auch die Ängste und Zweifel derer, die mit ihnen unterwegs sind. Vor solchen Menschen, die alles andere als Träumer sind, habe ich den allergrößten Respekt und lasse mir von ihnen gerne etwas gesagt sein: Dann bin ich vorbereitet, wenn ich eines Tages diese Wege gehen muss.

Hiob war so ein Mensch. Ich möchte nicht jeden Sonntag von ihm hören, mir nicht in jeder Situation seine Worte vorlegen, seine Fragen und seine Klagen aushalten müssen. Aber er wagt auszusprechen, was auch unsere Gedanken beschleicht, wenn die Welt um uns herum aus den Fugen gerät. „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen“ – ja, das allerdings: Denn genau das macht unsere Würde aus als Menschen, vom hohen Ross runterzukommen, uns einzugestehen, wo wir mit unserem Latein am Ende sind und Grenzen schmerzhaft spüren.

Hiob nervt, und das ist gut so. Er ist Realist genug, wenn er den theologisch abenteuerlichen Erklärungsversuchen seiner Freunde (schließlich muss ja einer schuld sein) nüchtern die unstrittigen, nackten Tatsachen entgegenhält. Wenn Gott wirklich da ist, wenn ich wirklich an ihn glaube, ja dann muss ich meine Lebenswirklichkeit genauso ehrlich annehmen und aushalten: Schönfärberei und falscher Trost machen es keineswegs besser, sie verfälschen nur das Bild, trüben meinen Blick, führen letztlich in die Irre.

Aber haben wir dazu das nötige Stehvermögen? Um ehrlich zu sein – und darum geht es hier ja – weiche ich gerne mal aus. Ich stürze mich dann in die Arbeit, lenke mich ab mit allerlei Kleinkram, drehe den Lautstärkeregler auf, um die unangenehme Wirklichkeit auszublenden. So jemand wie Hiob stört da nur, und der Gedanke an Gott passt mir da einfach nicht in den Kram: „So blicke doch weg von mir, damit ich Ruhe habe, bis mein Tag kommt.“

Das Leben ist schon hart und schwer genug, darum, lieber Gott, halte dich bitte zurück und lass mich mein bescheidenes Leben führen, bis es vorbei ist, bis meine Klagen und Zweifel verstummen, bis ich nicht mehr bin. „Nein“, sagt Gott, „das passt mir nun nicht in den Kram! Ich habe dich, kleiner scheuer Mensch ins Leben gerufen, habe dir von mir erzählen lassen, dich begleitet und außerdem noch Pläne mit dir.“

Gott sagt Nein zu unseren Fluchten aus dem Alltag, er sagt Nein zu unseren Hoffnungen einer flachen, flüchtigen Existenz, sagt Nein zu unserer Einbildung, dass wir und alles um uns herum nur zufällig ist und ohne Bedeutung.

Das Nein Gottes: Der biblische Begriff dafür lautet „Gericht“, und wir alle kennen die Rede vom „jüngsten Gericht“ am Ende der Tage. Wir sprechen davon im Glaubensbekenntnis, dass Christus kommen wird „zu richten die Lebenden und die Toten“. Eine etwas aus der Mode gekommene Vorstellung, an die uns bisweilen mittelalterliche Motive in Kirchen erinnern: Wo Christus auf dem Richterstuhl sitzt, und wo die Menschen in langer Reihe einer nach dem anderen vor ihn treten. Männer und Frauen, alt und jung, vielleicht auch arm gewesen oder reich – das sieht man ihnen in ihrer unverhüllten Blöße nicht mehr an.

Das jüngste Gericht – eine bedrohliche oder eine tröstliche Vorstellung? Es lässt tief blicken, mit welchen furchterregenden Details in diesen Bildern oft die Hölle ausgeschmückt wird, in welche die Verdammten hinabfahren. Die „Hölle auf Erden“, ob von den Menschen erlitten oder selbst erschaffen, sie gab offenbar zu allen Zeiten eine gute Vorlage ab für Künstler. Für den Himmel geht uns die Phantasie dagegen meistens etwas ab, aber die Phantasie ist hier auch nicht der Maßstab:

Gott lässt uns nicht aus der Verantwortung, aus unserer nicht und nicht aus seiner. Zwar können wir ihn zeitlebens leugnen, ignorieren, wir können fliehen und der Wahrheit auszuweichen versuchen – doch am Ende bin ich noch immer bei ihm, wie es in Psalm 139 so eindrücklich geschildert wird. Auch dort, in jenem wunderbar poetischen Psalm begegnet uns wie bei Hiob jener Zwiespalt von unstillbarer Sehnsucht nach Gott und dem gleichzeitigen Drang, sich seinem Blick, sich seiner wachenden und prüfenden Nähe zu entziehen.

Wenn Gott in Christus über uns zu Gericht sitzt, ist es aus mit unseren schlauen Spielchen. Es bleibt einzig, was wirklich und wahrhaftig ist, was wichtig ist und zählt. Ich mag gar nicht daran denken, was das für mich bedeutet! Aber ich will im Glauben darauf vertrauen, dass Gottes Gerechtigkeit größer ist als meine: Das ist keine blinde Hoffnung, sondern ein Zu-spruch, den Gott mir in seinem Sohn, mit seiner Krippe und seinem Kreuz gegeben hat.

Hinabgestiegen in das Reich der Hölle, hieß es früher im Glaubensbekenntnis. Das geht tiefer als der Tod und zeigt, wie weit Gott mit uns geht, um unser Versagen, unsere Lebensangst und Schuld auf sich zu nehmen und das unausweichliche Urteil von uns abzuwenden. Furcht und Zittern ist wohl die einzig glaubwürdige Haltung, wo Gott uns so gegenübertritt.

Hier wird alles Krumme geradegerückt – schmerzhaft, aber nicht tödlich, ungeschönt, aber nicht gnadenlos. Gottes Gericht bringt ans Licht, wie es, wie wir sein sollten: Geliebte Kinder, heil und gut in Gottes Licht.

Gottes Gericht erwartet uns alle, aber ich bin gewiss, dass dieses Bild anders als in den alten Vorstellungen mit strahlend hellen Farben zu malen ist, Farben der Hoffnung und des neuen Lebens. Für uns schwer vorstellbar. sicher: Genau deswegen brauchen wir immer wieder sein Wort und seine gute Botschaft, am besten täglich neu.

Liebe Gemeinde, jeder Monat hat seine eigene Botschaft, bringt eine bestimmte Wahrheit zum Ausdruck: Wir stehen mitten im November, im vorletzten Monat des Jahres, am vorletzten Sonntag des Kirchenjahres. Eine Übergangszeit, ungemütlich kalt und farblos. Die heutige Hiobsbotschaft jedoch bringt es noch einmal auf den Punkt und ruft ins uns wach, was uns umtreibt, wessen wir bedürfen und wer es ist, dessen Ankunft wir schon bald feiern dürfen und der unsere Hoffnung zum Leuchten bringt!

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft
bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.