Es ist immer dasselbe in meinem Arbeitszimmer: Da liegen erst einer, dann zwei, schließlich ganz viele Zettel, Ausdrucke, Notizen und Briefe. Spätestens nach 14 Tagen packt mich dann der Ehrgeiz, die ursprüngliche Ordnung und Aufgeräumtheit wieder herzustellen: Vieles des eben noch so Wichtigen landet im Papierkorb, und anschließend, gerade gestern wieder, suche ich dann verzweifelt nach einem bestimmten Dokument. Nicht selten ist das jedoch längst unrettbar im Altpapier verschwunden!
Die Suche wäre aber wohl ähnlich erfolglos, wenn ich den Dingen einfach ihren Lauf ließe, und sich die Papiere als großer Wust vom Schreibtisch aus weiter auf dem Boden verteilten –ganz abgesehen davon, dass meine Frau energisch Einspruch dagegen erheben würde!
Nun hat ein Schreibtisch durchaus überschaubare Dimensionen. So ein Feld hingegen, der Acker, von dem Jesus im Gleichnis hier bei Matthäus spricht, umfasst schon weitaus mehr. Und während die Werbepost auf meinem Schreibtisch leicht zu unterscheiden ist von den wirklich wichtigen Papieren, ist das beim Weizen schon schwieriger:
Haben Sie schonmal von Zizanion gehört, einem Unkraut, das dem Weizen in der Wachstumsphase zum Verwechseln ähnlich sieht? Bekannter ist es angeblich unter dem Namen „Lolch“ – ich gestehe, bis gestern war mir beides völlig fremd! Aber Predigtschreiben soll ja auch Bildungsarbeit sein, und so erfuhr ich außerdem von zwei besonderen Tücken dieses Gewächses: Es ist giftig, kann bei Verzehr den Verstand trüben. Ausreißen geht aber auch nicht ohne weiteres, da seine Wurzeln sich im Boden mit denen des Weizens verbinden.
Da hilft nur eines: Abwarten! Zähneknirschend akzeptieren, dass die liebe Sonne auch das Unkraut gedeihen lässt, und sich darauf einstellen, dass sich in die freudige Ernte auch die Mühe das Aussortierens mischen wird. Erst zum Schluss lässt sich jener Lolch vom Weizen unterscheiden, nur mit Geduld wird man seiner Herr, will man den Ertrag nicht schmälern.
Rätselhaft bleibt im Gleichnis jener Feind, der das Unkraut auf unserem Acker ausgebracht hat: Ihn zu packen, ihm schon vorab das Handwerk zu legen wäre natürlich die beste Lösung! Aber dazu sagt das Gleichnis nichts. Der von dieser Missetat betroffene Hausherr scheint sich auch nicht sonderlich aufzuregen. Hat er mit so etwas gerechnet? Oder ist es ihm egal, weil nicht er, der säte, sondern der Schnitter am Ende die ganze Mühe hat? Womöglich zählt für ihn nur das Ergebnis: Die Weizenernte; das, was die Scheune füllt und dem Leben dient.
Wir dürfen annehmen, dass es für den Hausherrn nicht die erste Saat und nicht die erste Ernte ist. Wohl nicht zum ersten Mal hat sich jemand störend in sein Leben eingemischt, wohl nicht zum ersten Mal muss er Abstriche machen, was die Früchte seiner Arbeit betrifft. Die Einsicht, dass es am Ende dennoch zum Leben reicht, macht ihn gelassen-souverän, treibt ihn nicht in den Zorn oder in verbitterte Resignation. Diese Saat geht bei ihm nicht auf.
Ich bin selber auf einem Bauerndorf großgeworden und habe auch in unserer Zeit in Nordsachsen Respekt gelernt vor der Natur und den Menschen, deren Arbeit und Einkommen eng mit ihr verbunden sind. Für Romantik und Beschaulichkeit ist da wenig Platz, aber das Denken in größeren Maßstäben hat mich schon beeindruckt.
Für mich ist ein anderer Lebensstil selbstverständlich: Ein festes monatliches Einkommen, Online-Shopping mit Lieferung am nächsten Tag, und wenn es sein muss auch mal Fertiggerichte aus dem Tiefkühler. Unser Erwartungshorizont reicht oft nur bis zum nächsten Supermarkt, oder übers Wochenende!
„Nun muss doch mal Schluss sein mit der Pandemie, dem Krieg, der Umweltdebatte usw.!“ – ja, das hätte ich auch gerne. Nur bin ich kein Experte in solchen Dingen, und erst recht kein Hellseher. Aber „try & error“, das Arbeiten mit Ungewissheiten, das Anpassen von Prognosen wie auch das Eingestehen von Fehlern – das halte ich für vollkommen legitim, wenn es gilt, Neues, Ungewohntes zu bewältigen. Bekanntlich wächst Gras nicht schneller, wenn man daran zieht, die Welt um uns herum fragt nicht, ob es uns gerade passt, und wir feiern Heiligabend am 24.12., auch wenn im Herbst schon die ersten Weihnachtsmänner auftauchen.
Geduld ist nicht billig zu haben. Verantwortung lebt vom Verzicht. Harmonie erwächst aus Rücksicht und Zurückhaltung. Von alldem wünsche ich mir nächstes Jahr ein wenig mehr, auch für mich selber. Vor zwei Jahren wurde unsere Enkeltochter geboren – eine bessere Lehrerin und Trainerin in Sachen Geduld, Rücksicht und Verantwortung gibt es wohl nicht!
Sich dem Gang der Natur anzuvertrauen, sich von Erfahrungen leiten zu lassen, vor allem aber über den eigenen Horizont hinaus zu blicken: Ich glaube, das hilft am meisten, gut mit dem Vergangenen abzuschließen und ehrfürchtig, aber unerschrocken das Neue anzunehmen.
Uns Christen sind dafür besondere Möglichkeiten gegeben: Über die manchmal seelenlos wirkende Mechanik der Welt hinaus wagen wir mehr. Wie der Beter im Eingangspsalm heben wir die Augen auf von unserem Tagwerk und fragen uns: Woher kommt mir Hilfe?
Vom Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat. Der deinen Fuß nicht gleiten lässt, der dich behütet und über dir wacht. Der Herr über Leben und Tod, der Herr von Zeit und Ewigkeit. Vertrauen wir ihm wie einem guten, verlässlichen Freund das an, was uns dieses Jahr auferlegt wurde an Höhen und Tiefen.
Legen wir in seine Hand zurück, was uns zuteilwurde, nehmen wir aus seiner Hand an, was auf uns zukommt. Unsere Ernte wird durchwachsen sein, Lebensdienliches und Lebensfeindliches mischt sich darunter. Er weiß darum und wird es einst klären. Haben wir die Größe, die Dinge auch mal so stehen zu lassen, abzuwarten, wie es sich entwickelt, Vertrauen zu üben und wachsen zu lassen, was nunmal seine Zeit zum Reifen braucht und seinen Lauf nimmt.
Glaube, Liebe, Hoffnung – die drei Grundpfeiler unseres Glaubens sind wie jener Weizen. Sie wachsen auf ganz unterschiedlichem Boden, sind wechselnder Witterung ausgesetzt. Manch seltsame Blüte treibt rechts und links davon. Der Herr der Ernte lässt alles wachsen, bei uns und anderen, und wird es trennen zu seiner Zeit. So wird die Ernte schließlich groß, vielfältig und gut. Seine Zeit kommt.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft
bewahre Eure Herzen und Sinn in Christus Jesus. Amen.