Aus dem Schatten

Bei lieblichstem Maienwetter, mitten im schönen langen Wochenende, am letzten kirchlichen Hochfest vor der Sommerpause wird uns ein schwer verdaulicher Predigttext vorgesetzt! Ausgerechnet heute, zu Pfingsten wird uns ein leichenstarrendes Totenfeld vor Augen geführt. Dabei bedarf es einer solchen Erinnerung doch gar nicht, wir kennen alle die schrecklichen Bilder:

Unwirklich scheinende Schwarzweiß-Fotos aus den Weltkriegen bis zu tagesaktuellen Videos aus der Ukraine und Nahost. Totenfelder, wie es so viele schon gab und immer wieder gibt auf all den Kriegsschauplätzen und in Katastrophengebieten. Ungezähltes Elend, Leiden und Sterben – Hundert mehr oder weniger machen kaum einen Unterschied: Einzelschicksale, der persönliche Weltuntergang jedes der Opfer wie der Hinterbliebenen fällt, so scheint es, da nicht ins Gewicht.

„Alles Fleisch ist wie Gras“, hinweggemäht, seiner Wurzeln, seiner Zukunft, seines Lebens beraubt. Was ist damit wohl noch alles gestorben, was liegt ebenfalls begraben auf diesem unermesslich weiten Feld?

Was tot war, soll nun wieder leben, spricht Gott. Zu ihm sollen wir heimkehren, die Hoffnung und unseren Glauben wiederfinden. Doch ist das überhaupt vorstellbar, eine solche Rückkehr zur Normalität – wenn schon die letzte aller Grenzen überschritten ist?

Es ist ganz gewiss nicht die Normalität jener billigen Vertröstungen, etwa dass „alles wieder gut“ wird, irgendeinen „tieferen Sinn“ hat und die Zeit es sei, die alle Wunden zu heilen vermag. Die meisten Menschen können Schicksalsschläge zwar gut wegstecken, vielleicht sogar mehrmals – aber niemand hat unendliche Kraft, und immer hinterlässt es Spuren, wenn wir Hilflosigkeit und Ohnmacht erfahren oder auch nur unser Ego empfindlich angekratzt wird:

Das macht etwas mit uns, das verändert uns und unsere Wahrnehmung. Das Leben mag weitergehen, ist aber nicht mehr dasselbe wie vorher. Es hat sich von einer bis dahin ungekannten, unheimlichen und verstörenden Seite gezeigt und damit seine alte Vertrautheit verloren – und wir müssen uns wieder neu darin einrichten. „Meinst du, dass diese Gebeine wieder lebendig werden? – Mein Gott, du weißt es!“

Gott weiß, was wir nicht wissen können. Wir wissen nur aus Erfahrung, wie gut und hilfreich es ist, neue und darum meist schwere Wege nicht alleine gehen zu müssen: Die Nachbarn, die einem nach dem Umzug nützliche Tipps geben und auch mal aushelfen, wenn was fehlt. Der Freund, der einfach da ist und Halt bietet, wenn die eigene Welt plötzlich aus den Fugen geraten scheint. Eine gute Seele am Telefon, die einem zuredet, aber auch schweigen und zuhören kann – sie alle tragen dazu bei, dass aus den ersten, noch unsicheren Schritten ein neuer Weg wird.

An einem solchen Punkt standen auch damals am ersten Pfingsttag die Menschen: Es war nicht alles vorbei! Jesus, der Sohn Gottes, der am Kreuz starb, er war nicht im Tod geblieben, sondern auferstanden zu neuem Leben – und nun doch wieder fern und unsichtbar. So vieles hätte man ihn noch fragen, so vieles noch von ihm hören wollen – aber so einfach ging das nun nicht mehr, und siehe da: Der alte Zweifel begann wieder zu nagen.

Wir kennen das: In guter Stimmung, bei Schönwetter machen wir uns nichts daraus, da behalten wir souverän den Überblick und lassen uns nicht beirren! Aber bei Unsicherheit, in schlaflosen Nächten oder schwachen Momenten – da schleichen sie sich wieder an, all die dunklen Mutmaßungen, die bangen Ängste und pressen uns den Atem ab.

„Ihr sollt erfahren, dass ich der Herr bin“ – ganze 50x begegnet diese Aussage im Buch des Propheten Hesekiel. Erfahrung, das wissen wir, ist der beste Lehrmeister, unsere Erfahrung überbietet alles, was wir lesen, lernen und begreifen können. Und Erfahrung macht man nur, indem man weitergeht, am besten abgesichert durch eine gute, verlässliche Begleitung.

Die Botschaft vom neuen Leben, die mit Geburt, Leben, Tod und Auferstehung Jesu mit Händen greifbar wurde, sie findet sich wieder in Bibelworten, Liedern, Gebeten und Bekenntnissen, die uns Halt und Hilfe geben – aber sie wird Wirklichkeit erst in der Glaubenserfahrung.

Pfingsten markiert den Punkt in der Geschichte, in der Menschen neue Schritte wagten, neue Gehversuche im Gottvertrauen. Pfingsten bedeutet Freiwerden von alten Gewohnheiten wie Sicherheiten, bedeutet Raum zu geben dem Unvertrauten und Lebendigen.

So etwas kann durchaus schwerfallen, kann unser Selbstverständnis in Frage stellen und befremdlich anmuten: Das ist absolut menschlich. Aber genügt uns das rein Menschliche, das einfältige „carpe diem“, so als ob es kein Morgen gäbe und nur den schalen Alltag, spärlich angereichert mit Binsenweisheiten?

Der Geist Gottes, der zu Pfingsten über die ersten Christen kam, er wird in der Bibel vielfältig beschrieben: Als Kraft, als Stärke, als neuer Schwung – wie auch als Beistand, Tröster und Begleiter. Er ist es, der die Gläubigen untereinander und mit Gott verbindet – von alleine könnten wir das nicht, so wenig übrigens wie es die „eine“, einzig wahre und alleingültige Kirche und Konfession gibt. Das sind alles nur Versuche einer Selbstbemächtigung, die in die Sackgasse führt.

Wer Gott sucht, findet ihn in diesem Geist Gottes, in den vielen kleinen und großen Wundern, die er uns im Glauben erleben lässt bei uns und unserem Nächsten. Dieser Geist Gottes ist wie eine helfende Hand, an der wir uns aufrichten können, die uns den Rücken stärkt und uns manchmal auch vor unbedachten Schritten zurückhält.

Gott geht nicht vorbei an denen, die am Boden liegen und dem Tode geweiht sind: Was tot war, soll Gott sei Dank wieder leben – nichts weniger als das soll auch zu unserer Erfahrung werden. Und manchmal ist dieser Geist Gottes auch eine helfende Hand, in die wir getrost all das legen können, was uns zu schwer und zu rätselhaft ist, was immer es sei: Sogar unser eigenes begrenztes und bedrohtes Leben – er wird es neu machen.

Pfingsten gibt der Botschaft vom neuen Leben in Gott einen neuen Akzent. Dramatisch setzt es der Prophet Hesekiel in Szene, wenn er in seiner Vision beschreibt, wie Gottes Atem wieder Fleisch an den Knochen bringt, Erstarrtes wieder in Bewegung versetzt und seinem Volk wieder eine lebendige Seele einhaucht.

Zu Pfingsten wünschen wir uns neues Leben natürlich auch für unsere Kirche, die nach 2000 Jahren schließlich auch so einiges erfahren, erlitten und leider auch angerichtet hat. Neue, unbekannte Wege liegen auch vor ihr: Manches scheint abgestorben, manches unvertraut, vieles unsicher.

Unsere Kirchen und Gemeinden sind kleiner geworden in der Zahl ihrer Mitglieder, jedenfalls hier in Europa. Sie ist demütiger geworden auch angesichts erschütternder, unverzeihlicher Skandale, die endlich ans Licht kommen. Und sie fährt eher auf „Sparflamme“, was die Verkündigung der frohen Botschaft in einer lauten und vielstimmigen Gesellschaft betrifft.

Aber sie ist wie am ersten Pfingsttag und genau wie wir von Gottes Geist berufen zu großer Hoffnung für eine neue Welt, zu mutigem Einsatz für die Schwachen und Verlorenen und dazu berufen, im Vertrauen auf Gottes Verheißungen ein Licht zu sein in der Dunkelheit.

Unheilspropheten gibt es schon genug, sie treiben uns am Ende doch nur in altbekannte Knechtschaft und dumpfe geistige Enge. Nein: Zu Pfingsten denken wir an den Geist Gottes, der uns aufblicken lässt in den Himmel, der allen offensteht. Er leite uns in ein neues Leben, in dem aller Unfrieden, Schmerz und Tod überwunden ist: Er sei mit uns in den hellen wie dunklen Stunden dieser Tage, damit wir vertrauen und glauben.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft
bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.